Finale

Der Rest der Welt

Marischa L. (75) und ihre Tochter Tanja (46) – eine gute Freundin von mir – konnte in ihrem Weltbild bisher nichts erschüttern. Den Atheismus ihrer Mutter hat Tanja schon mit der Muttermilch in Moskau eingesogen, und alle Versuche hiesiger Rabbiner, die Zuwandererfamilie L. wieder mit ihren jüdischen Wurzeln in Verbindung zu bringen (beziehungsweise zum regelmäßigen Besuch einer Synagoge zu bewegen), wurden von Mutter und Tochter geschickt unterlaufen.

Nun aber musste ich Marischa L. zum ersten Mal völlig aufgelöst erleben: In ihrer Küche, in der sie zu Feiertagen immer Borschtsch mit Sahnesoße kocht, war sie kurz davor, in Tränen auszubrechen. Der Grund für Marischas Lebenskrise ist ihr einziger Enkel, Tanjas Sohn Jurek. Der Achtjährige, der eine jüdische Schule in Berlin besucht, hatte seiner Oma mitgeteilt: »Babuschka, ab sofort lebe ich koscher!«

Lebenskonzept Was diese Entscheidung für Marischa L. bedeutet, ist unschwer zu ermessen: Nicht nur, dass der geliebte Enkel ihren köstlichen Borschtsch nicht mehr essen wollte. Nein, es war die Implosion eines Lebenskonzeptes, ihres Glaubens an den Internationalismus und die Welt von morgen.

Hatte Marischa nicht alles dafür getan, ihre Kinder zu aufgeklärten, rationalen Menschen zu erziehen, anstatt sie in ein jahrtausendealtes Essenskorsett zu pressen, dessen Sinn ihr nicht einmal Rabbiner überzeugend erklären konnten? Und nun stellte sich heraus, dass ihr einziger Enkel sich in einen religiösen Fanatiker verwandelte! Da saß er nun in ihrer für unkoscher erklärten Küche, ihr geliebter Jurek, Fleisch von ihrem Fleische, und behauptete, ab sofort dürfe er fünf Stunden lang keine Milchschnitte essen, nur weil er sich ihre gefüllten Piroschki einverleibt hatte!

Für meine Freundin Tanja war die Situation zwar weniger dramatisch, aber auch nicht ganz easy. Wie ihre Mutter hatte sie sich nie an Kaschrut gehalten, wollte ihrem Sohn bei der Ausbildung seiner jüdischen Identität aber nicht im Weg stehen. »Gut, Jurek, wenn du kein Schweinefleisch möchtest, kaufe ich Putenwurst«, versprach sie. Auch Gummibärchen gab es bei den L.s nun nur noch in der Koscher-Halal-Variante.

180 Grad-Wende Allerdings schaffte Tanja keine Wende um 180 Grad. Neulich war ich mit Marischa, Tanja und Jurek im Restaurant. Der Junge bestellte Pommes mit Ketchup, die Mutter ein englisches Frühstück. Von den gebratenen Würstchen konnte Jurek seinen Blick nicht abwenden. »Ist das Schwein?«, fragte er.

»Ja«, murmelte Tanja kleinlaut. »Darf man als Jude eine Ausnahme machen?« Marischa ärgerte sich, und Tanja fühlte sich schuldig, weil sie ihrem Sohn kein jüdisches Vorbild gab. Doch inzwischen hat Jurek den Konflikt auf seine Weise gelöst: »Babuschka, ich esse nur noch dieses Jahr koscher«, verkündete er und fragte: »Wann fängt das neue Jahr eigentlich an? An Rosch Haschana oder Silvester?«

Interview

»Die Zeit der Exzesse ist vorbei«

In ihrem neuen Buch »Glamour« setzt sich die Berliner Autorin Ute Cohen mit Schönheit und Eleganz auseinander. Dabei spielt auch Magie eine Rolle - und der Mut, sich selbst in einer »Zwischenwelt« inszenieren zu wollen

von Stefan Meetschen  17.12.2025 Aktualisiert

Potsdam

Kontroverse um Anne-Frank-Bild mit Kufiya

Ein Porträt von Anne Frank mit Palästinensertuch in einem Potsdamer Museum entfacht Streit. Während Kritiker darin antisemitische Tendenzen sehen, verteidigt das Museum das Bild. Die Hintergründe

von Monika Wendel  17.12.2025

Meinung

Der Missbrauch von Anne Frank und die Liebe zu toten Juden

In einem Potsdamer Museum stellt der Maler Costantino Ciervo das jüdische Mädchen mit einer Kufiya dar. So wird aus einem Schoa-Opfer eine universelle Mahnfigur, die vor allem eines leisten soll: die moralische Anklage Israels

von Daniel Neumann  17.12.2025

Nachruf

Albtraum in der Traumfabrik

Eine Familientragödie hat den Hollywood-Riesen und seine Frau aus dem Leben gerissen. An Rob Reiners Filmen voller Menschenliebe wie »Harry und Sally« ist eine ganze Generation mitgewachsen

von Sophie Albers Ben Chamo  17.12.2025

Theater

Die Krise des Schlemihl

»Sabotage« von Yael Ronen ist ein witziger Abend über einen Juden, der sich ständig für den Gaza-Krieg rechtfertigen muss

von Stephen Tree  17.12.2025

Forum

Leserbriefe

Kommentare und Meinungen zu aktuellen Themen der Jüdischen Allgemeinen

 17.12.2025

Zahl der Woche

30 Minuten

Fun Facts und Wissenswertes

 17.12.2025

Musik

Großes Konzert: Xavier Naidoo startete Tournee

Die Synagogen-Gemeinde Köln kritisiert: »Gerade in einer Zeit zunehmender antisemitischer Vorfälle ist es problematisch, Herrn Naidoo eine Bühne zu bieten«

 17.12.2025

"Imanuels Interpreten" (16)

Ethel Lindsey: Queer und funky

Die Französin mit israelischen Wurzeln bringt mit ihrem Debütalbum »Pretty Close« die 70er-Jahre zurück

von Imanuel Marcus  17.12.2025