Kriegsverbrecherprozesse

Der preußische Odysseus

Robert Kempner wurde aus Deutschland vertrieben und war später Stellvertreter des Chefanklägers in Nürnberg

von Jörg Friedrich  19.11.2020 12:44 Uhr

Hilfsankläger Robert Kempner (l.) und seine Mitarbeiterin Jane Lester in Nürnberg Foto: ullstein bild - ullstein bild

Robert Kempner wurde aus Deutschland vertrieben und war später Stellvertreter des Chefanklägers in Nürnberg

von Jörg Friedrich  19.11.2020 12:44 Uhr

Nach 20 Jahren Krieg und Irrfahrt kehrte Odysseus heim. Zwar war er listig und beredsam, doch damit waren die kriminellen Zustände in seinem Reich kaum zu bewältigen.

Auch genügte es nicht, die Schar der Schurken zu entwaffnen und zu verjagen, so erlegte sie Odysseus mit seinem unfehlbaren Bogen und hängte ihre Konkubinen auf; mythisch, begreiflich, nur dienen verfahrenslose Hinrichtungen schlecht zum Präzedenzfall. Es handelte sich um gewöhnliche Abrechnung, und 300 Jahre später mieden die Veranstalter der Nürnberger Prozesse solch archaische Selbstjustiz.

rechtsgeschichte Den Siegern, so sagten sie, ging es mehr darum, ein neues Kapitel Rechtsgeschichte zu schreiben. Bisher nämlich verübte das Personal von Unrechtsstaaten das schlechthin perfekte Verbrechen: Täter und Gesetzgeber bildeten ein und dieselbe Instanz, damit war jegliche Ungesetzlichkeit ausgeschlossen, denn sie stellte eine Gesetzesverwirklichung dar. Revolutionen pflegen solcherlei Regime nach dem Sturz auch Mann für Mann zu liquidieren – sicher ist sicher –, doch sprechen die Revolutionstribunale kein Recht, sondern verhängen abgekartete Maßnahmen.

Der Ruch der Siegerjustiz umgab auch die Nürnberger Prozesse, zumindest im Hause der Gehenkten. Dort spricht man nicht günstig über den Strick, auch wenn ihn ein ausführliches Urteil begleitet. Sein Text gab sich als bestehendes Internationales Strafrecht aus. Auch wenn so gut wie nie angewendet, heißt das nicht, dass keines existiert. 99 Prozent der deutschen Jurisprudenz spuckten ob dieser Konstruktion Gift und Galle.

Unter den Befürwortern ragen Gustav Radbruch hervor, Justizminister in der Weimarer Republik, sowie ein vormals noch kleiner Oberregierungsrat im preußischen Staatsdienst, Robert M. Kempner. »M« steht für Maximowitsch, denn Mutter Lydia entstammte dem litauisch-russischen Judentum. Sodann entspricht »M« amerikanischer Namensgebung, kehrte der Flüchtling nach seiner Odyssee doch uniformiert im Nürnberger US-Team in das geschlagene Land zurück.

Unter den Angeklagten traf Kempner zahlreiche Ex-Kollegen wieder.

Auf den Anklage- und Zeugenbänken traf er reihenweise alte Kollegen, die sich freuten, jemandem ihr Herz auszuschütten, der ihre Sprache verstand, auch die fein abgestuften Obliegenheiten einer Amtsperson im Reich, »Sie wissen doch …!!«. Er wusste allerdings nur bis Frühjahr ’33 und war nun seinerseits höchst wissbegierig, was den früheren Kantinenbekanntschaften nach seiner Entlassung durch Ministerpräsident Göring widerfahren war: »Erzählen Sie mal, wie macht man so einen Verbrecherstaat?«

SCHREIBTISCHTÄTER War Radbruch 1946 der Rechtsphilosoph, entwickelte der Gerichtspraktiker Kempner die Kriminologie des Schreibtischtäters. Er verwaltet Massenmord nüchtern und penibel wie ein Bauvorhaben. An seinen Händen klebt ja kein Blut, nur Tinte, seine Waffen bestehen bloß aus Papier, sein Schuss ist die 8-mm-Paraphe unter die Anweisung von oben. Daran stirbt keiner.

Ein Deportationsbefehl durchläuft den Dienstweg, sonst ist er nicht ausführbar; mit den erforderlichen Zeichnungen und Gegenzeichnungen wiederum anstandslos. Der Gestapobeamte am Bahnhof grübelt nicht über die Gesetzmäßigkeit. Dafür bürgt die Paraphe. Kein Mensch in der US-Anklagebehörde bis auf einen wusste, wie mit diesem Fingerabdruck des Täters umzugehen wäre.

Was hatte denn so ein Staatssekretär Ernst von Weizsäcker im Außenamt getan? Haftete sein Stift im Papierverkehr der Deportationen aus Frankreich und Ungarn, so besage das doch lediglich Kenntnisnahme, hieß es, sabotieren konnte man die Entschlüsse der Hitler-Himmler-Heydrich-Clique sowieso nicht. »Schauen Sie die Hände meines Mannes an«, beschwor von Weizsäckers Gattin den umgänglichen Anklagechef im Nürnberger Wilhelmstraßenprozess von 1948. »Glauben Sie, dass er damit irgendeiner Gräueltat fähig wäre?«

billigung Dem preußischen Ex-Beamten Kempner war absolut geläufig, dass Paraphieren nicht Kenntnisnahme, sondern Billigung heißt. Ob und inwieweit dergleichen eine Straftat darstellt, mag man bei Radbruch und in den gestelzten Sentenzen der Nürnberger Richter nachlesen, man kann es glauben oder nicht.

Die Ermittlungen Kempners handeln von der Verantwortlichkeit, das ist ein handgreiflicherer Begriff. Der NS-Staat ist kein Syndikat gewesen, wo der Pate seinen Killern mündliche Aufträge erteilt. Das Unrechtsregime vollbringt sein flächendeckendes Wüten vermittels eines pedantischen Staatsapparats, nicht daneben, darunter und über dessen Köpfen. Sie müssen teilnehmen; mit Todesschwadronen ist ein Genozid nicht durchführbar.

FUNKTIONÄRE Ein aufschlussreicher Nürnberger Zeuge für die Mentalität des Funktionärs ist der große Carl Schmitt gewesen. Kempner erbat sich von ihm, rein kollegial, zwei Schriftsätze zu dem einigermaßen wackeligen Delikt des Angriffskriegs, einen pro und einen contra. Schmitt, froh, seine Kunst wieder ausüben zu dürfen, legte sich im Nullkommanix ins Zeug.

Der Experimentleiter war vom Ergebnis restlos begeistert, »ein Papier so brillant wie das andere«. Kempners Schmitt-Verhör zählt zu dem umfänglichen Corpus seiner »pre-trial examinations«. Der Nürnberger »Justizstaat«, wie er ihn gern nannte, ist ein Camp von Besatzern und Besetzten gewesen, Letztere zusammengewürfelt aus Angeklagten, Verteidigern, Überläufern, Anklage- und Verteidigungszeugen, alimentiert und komfortabel interniert. Das Camp währte vier Jahre, produzierte 13 Verfahren sowie ein Gebirge an hektografierten Blättern, bis heute wenig erschlossen.

Im Gemeinverständnis wird Nürnberg mit dem Viermächteprozess gegen »Göring u.a.« identifiziert. Die USA führten darüber hinaus die sogenannten zwölf Nachfolgeprozesse gegen Industrielle, Juristen, Ärzte, Militärs, Verwaltungsleiter und Diplomaten durch; sie sind nicht in deutscher Sprache ediert und überlappten zeitlich mit der keimenden amerikanisch-westdeutschen Allianz.

verhandlungsprotokolle Die Verhandlungsprotokolle und -dokumente wiederum sind nur das Konzentrat ausgreifender Ermittlungen gegen alle möglichen Reichsstellen, Industrien und Banken, die bald der Kalte Krieg begraben sollte. Dies verstreute und teils verschleuderte Archiv des »Justizstaats« ist die wahre Anatomie des NS-Kadavers, und Kempner war sein Chefanatom.

Er ist sein Lebtag nicht mehr davon losgekommen. Mit der Ablösung der Roosevelt-Truman-Administration verlor der in Philadelphia naturalisierte und, wohlgehasst, in Frankfurt praktizierende Anwalt den Manövrierraum. Er litt fortan an der Achillesferse der Internationalen Strafgerichtsbarkeit, dem machtpolitischen Realitätsprinzip. Es versetzte, mit nur allzu guten Gründen, die kürzlich noch amtierende Gerichtsmacht UdSSR in den Schurkenstatus.

Indes gehörte sie schon seit mindestens 30 Jahren auf die Anklagebank. Nur ist es exakt wie heute und bereits in der Sage vom Raubritter Eppelein: »Die Nürnberger hängen keinen, sie hätten ihn denn.« Wie fängt man die Führer und Unterführer von Russland, China, Nordkorea, Venezuela und so weiter ohne Militärsieg und Einmarsch? Nie im Leben! Andererseits werden Oberschurken wie die Taliban und Kronprinz bin Salman unverzichtbare Partner; man braucht Frieden und Koalitionen.

VERBÜNDETE Die Nazis, die in den Nachfolgeprozessen eingesperrten wie die unbehelligt gebliebenen, verwandelten sich in tüchtige Verbündete, zumal sie pfundweise Kreide fraßen. Keine zehn Jahre zuvor hatten sie für die Zeit nach dem Endsieg Tribunale vorbereitet und Stricke geknüpft für die »anglo-amerikanischen Luftstrategen«; Carl Schmitt hätte unwiderlegliche Begründungen dafür erstellt, den japanischen Waffengefährten in Kopie! Gerechtigkeit hin oder her – Freund und Feind sind rein politische Begriffe, und die Justiz hängt keinen Freund und fängt keinen Feind extra muros.

Wer dem ergrauten Robert Kempner solche Zweifel vortrug, erblickte eine scharf gekräuselte Oberlippe. »All die faulen Köppe« – er sprach reinstes Anglo-Berlinisch – »mit ihren dreckigen Hirnen!« Sie entwischen eben. Nicht ins Versteck, nein, in die Amtskantine. »Und was heißt hier Kollege?« In jedem steckt ein Schurke und in jedem Schurken ein Kollege, so wie das Schicksal würfelt. Als blutjunger Jurist hatte Kempner als Gehilfe des legendären Strafverteidigers Frei die Berliner Fassadenkletterer verteidigt (»iss’n aussterbender Beruf«).

Allein, wie viele Jahrhunderte mussten vergehen, ehe Wegelagerei, Meuchelei und Fassadenkletterei inkriminierbar waren? Die erste Strafrechtsordnung des Heiligen Römischen Reichs, die »Carolina«, erließ Karl V. 1532; 1740 beendete Friedrich II. die Ermittlung der Tathergänge durch die Folter; von einer akzeptablen Kriminologie kann erst seit knapp 200 Jahren die Rede sein. In solchen Zeitschritten siedelte Kempner die Etablierung der nächsten Stufe an, einer internationalen Strafgewalt. Sie hätte denn auf dem von den zwölf Nachfolgeprozessen umrissenen Feld zu tun, mit der Delinquenz der gepflegten Hände.

Gerechtigkeit konnte Kempner nicht erreichen – aber zumindest Wahrheit.

Es bedurfte gegen die Paraphierer eines Anfangs. Ob Kempner und Nürnberg ihn gesetzt haben, wird die Nachwelt erst erfahren. Möglicherweise schufen sie ein Muster ohne Wert. Dann hätte der Bogen des Odysseus zumindest gerechte Vergeltung geübt. Die Pfeile des von ihm persönlich bestrittenen Verfahrens steckten allerdings nicht tief.

Die Verurteilten des Wilhelmstraßenprozesses gegen die Chefs des Auswärtigen Amtes kamen nach wenigen Jahren gnadenhalber frei. Ganz Deutschland hielt sie für unschuldig; die Urteile hat die Bundesregierung nie anerkannt. Die Akten enthalten aber etwas Wichtigeres als das Strafmaß: den Wahrheitsbeweis. Kempner zu ehren, gäbe es ein einfaches Verbreitungsmittel, die verstreuten Protokolle all seiner Nürnberger pre-trial examinations zu edieren. Auf die Dauer ist Wahrheit vernichtender als Bestrafen.

Der Autor ist Historiker und Buchautor (»Der Brand«). 1987 gab er zusammen mit Robert Kempner dessen Lebenserinnerungen »Ankläger einer Epoche« heraus.

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