»Hier Lilienthal«, so meldete er sich, mit seiner ruhigen, angenehm zurückhaltenden Stimme. Und dann, als er wusste, wer am Telefon war: »Du bist es, wie schön. Dann wird es ein guter Tag.« 1998, da war mein Roman Hanomag bereits erschienen, hatte ich schon von Peter Lilienthal gehört und wusste, dass er Filme drehte.
Dann, eines Tages, stand er vor meiner Tür. Den Kontakt hatte der »Verlag der Autoren« in Frankfurt hergestellt. Mit meinem Buch in der einen, einem Blumenstrauß in der anderen Hand, stand er also da, um mir zu sagen, er habe sich in mein Buch verliebt und trage sich mit dem Gedanken, es zu verfilmen. Er beabsichtige, den Ort des Geschehens zu erweitern, aus Deutschland herauszuholen und nach New York zu verlegen, nach Red Hook, er kenne die Gegend: Hafen, Schiffe, Container, Laster. Aus der Figur des Zerkowitz werde ein Immobilienhändler, ein windiger Typ.
Lilienthal kam mit dem Zug aus München, und wenn ich mich richtig erinnere, blieb er den ganzen Tag, sprach mit mir über seine Pläne; ich setzte ihm eine Minestrone vor, und am Abend nahm er den letzten Zug zurück.
HOFFNUNG Die Geschichte, um die es in meinem Buch geht, handelt von einem Lastwagenfahrer, der einen Hanomag fährt, einen 2,5-Tonner mit Pritsche. Es geht um Alltag, Scheitern von Träumen, um Würde. »Dein Buch macht mir Hoffnung«, sagte Lilienthal zu mir. Er hatte bereits Kontakt mit Schauspielern aufgenommen, deren Namen mich durcheinanderbrachten: Joaquin Phoenix, Mark Ruffalo, F. Murray Abraham, Rita Moreno und Anna Galiena.
Er kannte sie alle, und ich wusste, wie berühmt sie waren. Er schien mit halb New York bekannt zu sein. Gewerkschaftsleute aus der Filmbranche ebenso wie Mafiatypen, die bei Drehs ihre Finger im Spiel gehabt haben sollen. »Du glaubst ja nicht, wie kompliziert es ist, einen internationalen Kinofilm zu drehen«, sagte er zu mir. Er verdrehte kurz die Augen, dann weiter.
Peter Lilienthal sprach nur von Dingen, die er kannte. Einer seiner frühen Filme war Dear Mr. Wonderful. Joe Pesci spielt darin Ruby Dennis, den Besitzer eines heruntergekommenen Nachtklubs namens »Rubyʼs Palace«. Das Projekt »Hanomag«, unser Projekt, sollte jetzt »Esperanza« heißen. Er liebte die spanische Sprache, die Romane von Felisberto Hernández, dem Schriftsteller und Pianisten aus Uruguay. »Du musst unbedingt etwas von ihm lesen«, riet er mir. »Fang mit der Erzählung ›Die Frau, die mir gleicht‹ an. Sie wird dir gefallen. Er ist genauso verrückt wie wir!«
Peter Lilienthal sprach nur von Dingen, die er kannte.
Von Hanomag gab es sechs, sieben oder sogar noch mehr Drehbuchfassungen im Laufe der Jahre, teils auf Deutsch, teils auf Englisch, die in Kooperation mit Fred Strype und David Steel, amerikanischen Drehbuchautoren, entstanden. Der »Verlag der Autoren« unterstützte ihn. Wir besprachen uns eingehend, telefonierten fast jeden Tag, schickten uns E-Mails, besuchten uns. Er flog nach New York, suchte nach Drehorten, fotografierte, verhandelte, berichtete mir vom Fortgang der Arbeit.
Als ich Ende der 90er-Jahre nach Südfrankreich zog, besuchte er mich in dem Ort zwischen Arles, Nimes und Montpellier, den er »irritierend hässlich« fand. Aber das Hôtel de lʼOrange in Sommières sei wunderbar. Ob ich wisse, dass Durrell in einer Villa in der Nachbarschaft gelebt habe, der Engländer. Etwa Lawrence Durrell? Ja! Ich war beeindruckt.
perspektive Unsere gemeinsame Arbeit zog sich über Jahre hin. Immer wieder verwarf er eine Fassung, um gleich darauf mit einer neuen zu beginnen. Immer mit einer leichten Verschiebung der Perspektive. Es war seltsam: Manchmal dachte ich, Peter sei mehr Dichter als Filmregisseur.
Er liebte nicht nur die Bücher von Felisberto Hernández, nicht nur aberwitzig Skurriles, Fantastisches, Verträumes, und wie er sprach, war es eigentlich immer, als würde ein Dichter sprechen. Jemand wie Ossip Mandelstam. Jemand wie Bruno Schulz. Jemand wie Robert Walser. »Stell dir bloß vor«, sagte er oft. »Sie halten mich mal wieder für einen Anarchisten.« »Sie?«, fragte ich. »Wer soll das sein?« »Na, diese Ignoranten!«
Peter Lilienthal war unglaublich dicht am Leben. Er hatte unglaublich viel erlebt. Er erlebte unglaublich viel. Wenn er anfing zu erzählen, war es schwer, ihm zu folgen, so viel, so traurig – und so lustig. Auf das Deckblatt einer Drehbuchfassung von 2003 zu Hanomag schrieb er: »When you start a new life – against all odds and contrary to all logic – you become a stranger to yourself, blissfully unaware, free to take all the wrong roads.« Das, so habe ich es verstanden, war den Figuren gewidmet, den Schauspielern. Aber wohl auch sich selbst.
FREUNDSCHAFT Aus unserem Film ist nichts geworden. Die Produktionsgesellschaft ging pleite. Aber unsere Freundschaft blieb, wenn auch ferner, wenn auch loser. Als er mich zuletzt zu Hause in Heidelberg besuchte, vor etwa fünf oder sechs Jahren, hatte er anstelle einer Rückfahrkarte eine alte Straßenbahnfahrkarte in der Jackentasche, die er einigermaßen ratlos betrachtete: »Meinst du, ich komme damit zurück nach München? Ich weiß auch gar nicht, wann ein Zug fährt.«
Er hatte etwas von Ikarus, etwas Ungestümes ging von ihm aus.
Ich war mir nicht sicher, ob die Ironie, die in seinen Worten mitschwang, gespielt war oder nicht. Also fuhr ich mit ihm im Taxi zum Hauptbahnhof und begleitete ihn in einem Bummelzug bis nach Mannheim. Er bestieg in letzter Sekunde den letzten ICE nach München und rief am nächsten Morgen bei mir an.
Alles sei bestens gelaufen, er habe die Fahrt im Speisewagen verbracht und sich mit der argentinischen Kellnerin unterhalten, die – man stelle sich diesen Zufall vor – Verwandte in Uruguay habe, die er noch aus seiner Schulzeit kenne. Er sei sich wie der Neunjährige vorgekommen, der er einmal gewesen sei. Die argentinische Kellnerin habe wie Anna Galiena ausgesehen, der gleiche Typ, voller Wärme, Neugier und Herzlichkeit.
MANU CHAO Und dann sagte er, ich solle die CD von Manu Chao auflegen und seinen Lieblingssong mitsingen: »Me Llaman Calle« (auf Deutsch »Sie nennen mich Straße«). Sie nennen mich Straße, Straße der Nacht, Straße des Tages … Und das tat ich.
Ich kenne niemanden, der freundlicher war als er, liebenswürdiger. Niemanden, der genauer hinhörte, zuhörte. Niemanden, der das Wort »Seele« selbstverständlicher in den Mund nahm. »Wie geht es dir?«, fragte er mich oft. »Was macht die Seele?«
Er hatte etwas von Ikarus, etwas Ungestümes ging von ihm aus. Einer seiner Filme heißt Die Sonne angreifen. Andere Das Schweigen des Dichters oder Biographie eines Schokoladentages. Die Titel, so kommt es mir heute vor, besagen, was für ein Mensch er war. All das war Peter Lilienthal: Ikarus, Flügelschatten, Gelächter, Chaplin, eine Jazzstimme, Melancholie und Abgrund und Witz. Es macht mich traurig, dass Peter Lilienthal gestorben ist. Er wurde 95 Jahre alt.
Die Autorin ist Schriftstellerin. Von ihr erschienen unter anderem die Romane »Hanomag« (1998) und »Da hängt mein Kleid« (2003).
Peter Lilienthal wurde am 27. November 1927 in Berlin geboren. 1939 floh seine jüdische Mutter mit ihm nach Uruguay. Er studierte in Montevideo und an der Hochschule der Künste (HdK). Seine Filme wie Es herrscht Ruhe im Land oder Der Aufstand beschäftigten sich mit Konflikten in Südamerika. Sein größter Erfolg war David, auf der Berlinale 1979 mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet. Die Verfilmung des autobiografischen Romans von Ezra Ben Gershôm alias Joel König schildert das Leben eines jungen Juden während der NS-Zeit. Peter Lilienthal starb am 28. April in München.