Sachbuch

Der Kompetenztrick

25. November 2023: Demonstration in Berlin Foto: picture alliance / SZ Photo

In Deutschland gibt es eine Tendenz, sich der Verantwortung für die Schoa zu entledigen – eine Forderung, auf die lange Zeit eigentlich nur Rechtsextreme das Patent hatten. Doch nun ist diese auch bei linken Geschichtsrevisionisten angekommen. »Free Palestine from German guilt« wird von Teilen dieses Juste Milieu seit dem 7. Oktober wahlweise am Auswärtigen Amt oder an deutschen Universitäten skandiert.

Auch an Holocaust-Relativierung fehlt es bei den bundesweit um sich greifenden israelfeindlichen Demonstrationen nicht. In einem offenen Brief warnten namhafte Historiker bereits vor dem Missbrauch der Schoa – nicht aber, weil ebenjene Demonstranten Israels Recht auf Selbstverteidigung in bester Täter-Opfer-Umkehr mit den Gräueltaten der Nazis vergleichen.

Vielmehr kritisieren sie jene, die auf Parallelen zwischen dem NS-Vernichtungsantisemitismus und dem schlimmsten antisemitischen Pogrom seit 1945 hinweisen. Was derzeit auf deutschen Straßen zu beobachten ist, kann mitunter als Resultat einer schon länger anhaltenden Debatte verstanden werden.

Postkoloniale Theoretiker

Im sogenannten Historikerstreit 2.0 behaupten vor allem postkoloniale Theoretiker, die Erinnerung an den Holocaust würde eine solche an andere Menschheitsverbrechen blockieren. Ein neuer Sammelband des Verbrecher Verlags nimmt sich dieser Diskussion an. Der Titel Erinnern als höchste Form des Vergessens? (Um-)Deutungen des Holocaust und der »Historikerstreit 2.0« ist quasi Programm.

Das Buch ist in drei Kapitel aufgeteilt. Zu Beginn wird anhand historischer Details die Präzedenzlosigkeit des Holocaust dargestellt und an Beispielen gezeigt, wie die Erinnerung daran seit 1945 immer wieder Gegenstand von Angriffen werden sollte. Daran anknüpfend werden verschiedene Umdeutungsversuche analysiert, um sich dann im letzten Kapitel der Erinnerungsabwehr und dem Antisemitismus der Gegenwart zu widmen.

Entstanden ist das Buch vor dem 7. Oktober. Die darin enthaltenen Beiträge sind dennoch wertvoll für ein Verständnis der aktuellen Situation. Lars Rensmann etwa beschäftigt sich in seinem Beitrag mit der Jerusalem Declaration on Antisemitism (JDA), die die international anerkannte Arbeitsdefinition zu Antisemitismus der IHRA abzulösen versuchte.

Er zeigt, warum die JDA sich nicht zur Bekämpfung des Antisemitismus eignet, sondern zu subjektivistischer Willkür führt. Es gehe weniger darum, Antisemitismus zu benennen, als vielmehr Antisemitismus zu nivellieren – vor allem in seiner israelbezogenen Form.

Expertise simulieren

Für die nötige Autorität wird ein simpler Taschenspielertrick angewendet. Zu Beginn der Erklärung wird darauf verwiesen, sie sei von Wissenschaftlern verfasst, »die in der Antisemitismusforschung und in verwandten Bereichen arbeiten«. Mehrheitlich aber, so betont Rensmann, handelt es sich um fachfremde Autoren. Mit diesem selbstbewusst proklamierten Ort des Sprechakts würde man Expertise simulieren.

Der Inhalt müsse nicht mehr kritisch überprüft werden, denn die Namen der Beteiligten würden bereits für sich sprechen. Das ist eine Taktik, die derzeit auch bei den unzähligen »Offenen Briefen« zu beobachten ist, die durch ihre bekannten Unterzeichner über die unhaltbaren Vorwürfe gegen Israel hinwegtäuschen.

Der Sammelband, in dem auch der Historiker Yehuda Bauer zu Wort kommt, ist eine Verteidigung gegen Angriffe auf die Erinnerung von gestern bis heute und ein Festhalten an einer klaren Analyse des Antisemitismus.

Stefan Grigat, Jakob Hoffmann, Marc Seul und Andreas Stahl (Hrsg.): »Erinnern als höchste Form des Vergessens? (Um-)Deutungen des Holocaust und der ›Historikerstreit 2.0‹«. Verbrecher, Berlin 2023, 470 S., 29 €

Israel

Ausstellung zu Bachs Klaviermusik in Jerusalem

Das Bachhaus Eisenach zeigt in Israel Dokumente zur frühen Verbreitung von Johann Sebastian Bachs Musik in Europa. Die Ausstellung begleitet das »12. Piano Festival« im Jerusalem Theatre

 11.12.2025

Brigitte Macrons Ausfall gegen Aktivistinnen entfacht eine landesweite Debatte.

Frankreich

First Lady an Abittans Seite – und gegen Feministinnen

Brigitte Macrons Ausfall gegen Feministinnen wirft ein Schlaglicht auf Frankreichs Umgang mit Protest, sexueller Gewalt und prominenten Beschuldigten.

von Nicole Dreyfus  11.12.2025

Fotografie

Über die Würde des Unangepassten

Der Berliner Gropius Bau widmet Diane Arbus eine umfangreiche Retrospektive

von Bettina Piper  11.12.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

 11.12.2025

Reykjavik

Auch Island boykottiert jetzt den ESC

Der isländische Rundfunksenders RÚV hat beschlossen, sich Spanien, Irland, Slowenien und der Niederlande anzuschließen

 11.12.2025

Feiertage

Weihnachten mit von Juden geschriebenen Liedern

Auch Juden tragen zu christlichen Feiertagstraditionen bei: Sie schreiben und singen Weihnachtslieder

von Imanuel Marcus  10.12.2025

Kalender

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 11. Dezember bis zum 17. Dezember

 10.12.2025

Debatte

Wie umgehen mit Xavier Naidoo?

Der Sänger kehrt auf die großen Bühnen zurück. Ausverkaufte Hallen treffen auf Antisemitismus-Vorfälle, anhängige Verfahren und eine umstrittene Entschuldigung - und auf die Frage, wie man heute dazu steht

von Stefanie Järkel, Jonas-Erik Schmidt  10.12.2025

Neuerscheinung

Albert Speer als Meister der Inszenierung

Wer war Albert Speer wirklich? Der französische Autor Jean-Noël Orengo entlarvt den gefeierten Architekten als Meister der Täuschung – und blickt hinter das Image vom »guten Nazi«

von Sibylle Peine  10.12.2025