Lesen

Der jüdische Sprachpapst

Es war der Anarchist Erich Mühsam, der den deutschnationalen Eduard Engel 1931 im Berliner Tageblatt zu dessen 80. Geburtstag als »sehr streitbaren und dabei fröhlichen Geist« würdigte. Trotz seines angriffslustigen Charakters sei er gar nicht engherzig, sondern im Streit von »heiterer Geneigtheit, sich besiegt zu erklären«. Mühsam fühlt sich »im zornigen Gefühl benachbart« und seelenverwandt mit dem keine Kritik scheuenden Sprachwächter; er prophezeit ihm eine Zeit, die ihm mehr Gerechtigkeit zollen wird.

Seine Ordnungsrufe haben Eduard Engel bei Schriftstellern nicht nur Freunde beschert, weniger noch bei Wissenschaftlern, deren »Gelehrttuerei in Worten« er in seiner Deutschen Stilkunst von 1911 rügt. Von vielen als Sprachpurist und Pedant beschimpft, war er doch ein leidenschaftlicher Freund der deutschen Sprache.

»Fremdwörterei« Seine Ausfälle gegen das Fremdwort haben während des Ersten Weltkriegs manchmal chauvinistische Anklänge, er bekämpft es aber nicht als Nationalist, sondern weil es einen unpersönlichen Stil zur Folge habe. In Fremdwörtern, ist Engel überzeugt, könne man zwar schreiben, aber weder fühlen noch denken noch träumen. Und noch wichtiger ist ihm die Mauer, die er durch die »Fremdwörterei« zwischen den »Gebildeten und den nach Bildung ringenden Klassen« errichtet sieht. Sein ihm wichtigstes Werk widmete er den um einen guten Stil ringenden Ungelehrten, »die der liebreichen Unterweisung bedürfen und ihr zugänglich sind«.

Die Deutsche Stilkunst sollte bis 1931 nicht weniger als 31 Auflagen erleben. Als Engel sein »Lebensbuch« veröffentlichte, hatte er bereits zahlreiche literaturhistorische Werke publiziert und sich mit Novellen auch in der Schönen Literatur versucht. Als Herausgeber des »Magazins für die Literatur des (In- und) Auslandes« gilt er als Entdecker Fontanes und Lobredner des französischen Naturalisten Zola. Seine zweibändige Geschichte der deutschen Literatur war von 1906 bis 1929 gut für 38 Auflagen, seine englisch-nordamerikanische wie seine französische Literaturgeschichte zeigen den Liebhaber auch ausländischer Literaturen. Vielseitigkeit verraten Bücher zum Eisenbahnbau, über Kaspar Hauser oder Königin Luise, eine Goethe-Biografie und die Herausgabe von Werken Heinrich Heines.

Geboren am 12. November 1851 in Stolp, hat Engel in Berlin Sanskrit, Griechisch und Altfranzösisch studiert. 1874 wurde er promoviert, in seinem Hauptberuf wirkte er als amtlicher Stenograf im Deutschen Reichstag. Seine erste Frau Paula Dolores, eine Andalusierin, die 1910 nach 35 Ehejahren stirbt, lehrt ihn »Ehrfurcht vor der Sprache überhaupt, Ehrfurcht vor jeder Sprache«.

Publikationsverbot Ein geruhsamer, dem Schreiben gewidmeter Lebensabend wird ihm 1933 durch eine Politik zerstört, deren verbrecherischen Charakter er wohl bis zum Schluss seines Lebens nicht in seiner ganzen Tragweite verstanden hat. Der 82-Jährige, dem sein Jüdischsein nie wichtig war, erhält Publikationsverbot. Seine Werke dürfen weiter verkauft werden, aber die Verlage nutzen die Chance, inzwischen rechtlose Autoren um ihre Honorare zu prellen.

1936 wird Eduard Engel in dem Machwerk Jüdische und völkische Literaturwissenschaft verunglimpft: Nie habe er jemals das Interesse des Deutschtums vertreten. Aber es kommt noch schlimmer: Er sei mittellos, schreibt er, und lebe mit seiner zweiten Frau Anna unter einem Druck, der jeden vernichte. Nur das Schreiben hält ihn am Leben: Es entstehen ohne Aussicht auf Veröffentlichung 6800 Manuskriptseiten einer deutschen Geschichte zwischen 1815 und 1919; der Autor fühlt sich durch die Arbeit »furchtbar erschüttert«. Zwei Wochen nach den Novemberpogromen stirbt Eduard Engel am 23. November 1938 in Bornim bei Potsdam. Seine Schwester Sophie wurde wahrscheinlich im KZ Majdanek ermordet, seine nichtjüdische Frau erlebte verarmt die Befreiung, bis zuletzt hoffte sie auf ein Wiedererscheinen der Bücher ihres Mannes.

Dass dies nicht geschah, hat Gründe. Nach Eduard Engels Tod schlug die Stunde der Arisierer. 1944 erschien im Verlag C.H. Beck die Deutsche Stilkunst eines Ludwig Reiners. Heidi Reuschel kommt in ihrer Dissertation an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg 2014 zu dem Schluss, die Fülle von inhaltlichen Übereinstimmungen lasse keinen anderen Eindruck zu, als dass Reiners Engels Stilkunst als Vorlage benutzt hat. Nach 1945 ließ Reiners sich entnazifizieren und säuberte sein Werk vom Rassismus, den er der Stilkunst Eduard Engels hinzugefügt hatte. Gemeinsam mit seinem Verlag verdiente er nun kräftig. 2004 erschien die letzte Auflage, noch für 2016 war eine Neuauflage angekündigt.

Sie wird wohl unterbleiben, denn in einem späten Akt der Gerechtigkeit hat Stefan Stirnemann in der »Anderen Bibliothek« Eduard Engel sein Werk zurückgegeben. In der nach allen Regeln der Buchkunst ausgestatteten zweibändigen Ausgabe ist jetzt wieder zu lesen, dass allein aus Wahrheit und Wahrhaftigkeit ein guter Stil entstehe und nur eine Todsünde gegen den guten Stil nicht vergeben werden könne, nämlich die Unwahrhaftigkeit.

Leidenschaft
Die Deutsche Stilkunst ist das wichtigste Vermächtnis Eduard Engels. Auf jeder Seite findet der Leser Anregungen, sorgsam und fantasievoll mit der Sprache umzugehen, und spürt, wie sehr Leidenschaft für die Schönheiten der deutschen Sprache die Feder des Autors führte. Auch wenn ihm dies nicht immer gelang, wollte Eduard Engel kein diktatorischer Sprachrichter sein, sondern distanzierte sich von Vorgängern mit ihren im Offizierston vorgetragenen Urteilen voller Dünkel wie »scheußlich, albern, dumm, jüdisch, schauderhaft«.

Stattdessen begreift er die »gesunde Freiheit der Sprache« und die »Lust fröhlichen Mitschaffens am Kunstwerk der Sprache« als Voraussetzung jeder sprachlichen Weiterentwicklung. Der Leser freut sich an Engels – alles andere als boshafter – Freude, wenn von einem Autor berichtet wird, der an der Überanstrengung gestorben sei, die er beim sprachlichen Ausfeilen seiner Arbeiten erlitten hat.

Eduard Engel: »Deutsche Stilkunst«. Zwei Bände im Schuber, mit einem Vorwort von Stefan Stirnemann. Die Andere Bibliothek, Berlin 2016, 528 u. 448 S., 78 €

Berlin

»Berlin verneigt sich«

Zwei Monate nach ihrem Tod wird die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer in Berlin gewürdigt. Der Bundespräsident mahnt vor Politikern und Weggefährten, das Erbe der Jahrhundertfrau weiterzutragen

von Alexander Riedel  09.07.2025 Aktualisiert

Zahl der Woche

4275 Personen

Fun Facts und Wissenswertes

 09.07.2025

Glosse

Der Rest der Welt

Studieren in Wien, Mampfen im neunten Bezirk

von Margalit Edelstein  09.07.2025

Psychologie

Modell für die Traumaforschung

Die Hebräische Universität veranstaltet eine Konferenz zu seelischer Gesundheit in Kriegszeiten

von Sabine Brandes  09.07.2025

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 10. Juli bis zum 18. Juli

 09.07.2025

Musikbranche

»Schmähungen allein verbrauchen sich schnell«

Marek Lieberberg gehört zu den größten Konzertveranstaltern Europas. Der 79-Jährige über den Judenhass auf internationalen Musikfestivals, die 1968er und Roger Waters

von Sophie Albers Ben Chamo  09.07.2025

Berliner Philharmonie

Gedenkfeier für Margot Friedländer am Mittwoch

Erwartet werden zu dem Gedenken langjährige Wegbegleiterinnen und Wegbegleiter, Freundinnen und Freunde Friedländers sowie Preisträgerinnen und Preisträger des nach ihr benannten Preises

 08.07.2025

Berlin

Die Tänzerin ist Raubkunst

Heinrich Stahl musste die Statue während der NS-Zeit unter Zwang verkaufen. 1978 geriet sie an das Georg Kolbe Museum. Jetzt erheben Erben Vorwürfe gegen die Direktorin

von Ayala Goldmann  08.07.2025

Andrea Kiewel

»Sollen die Israelis sich abschlachten lassen?«

Die »Fernsehgarten«-Moderatorin äußert sich im »Zeit«-Magazin erneut deutlich politisch zu ihrer Wahlheimat

 08.07.2025