Film

Der Hippie und die Mamme

Anfang 2009 lief ein Kurzfilm im Wettbewerb der Berlinale. In nur fünf Minuten zeigte er be-rührende Szenen: Ein Sohn, selbst nicht mehr ganz jung, pflegt seine über 90-jährige Mutter. Die Mutter ist eine Überlebende der Nazi-Vernichtungsmaschinerie. Immer wieder brechen ihre grausamen Erinnerungen aus ihr heraus.

Dieser auf wenige Skizzen beschränkte, international überaus erfolgreiche Film Mama, L’Chaim! ist der Kern und Ausgangspunkt einer Dokumentation in Spielfilmlänge, die am Dienstag auf dem Münchner Filmfest Premiere hatte: L’ Chaim! von Elkan Spiller.

lebenskünstler Mit einer Autofahrt durch heftigen Regen beginnt der Film. Man sieht einen Mann. Er trägt Vollbart, Jeansjacke und Kappe, raucht einen Joint und fährt zum Markt: »Das ist das Leben«, sinniert er, »was man hineingibt, das bekommt man zurück.« Dabei organisiert er telefonisch das Abendessen für seine Mutter. Die Musik ist fröhlich und dynamisch, der Regen, der gegen die Autoscheibe prasselt, trennt das Innere des Autos noch mehr von der Außenwelt, macht es ein wenig auch zur Druckkammer der Empfindungen.

Der Mann heißt Chaim Lubelski. Er ist der Sohn, der seine Mutter pflegt, die Hauptfigur des Films. Ein Intellektueller und Lebenskünstler, ein Eigenbrötler und ein zärtlicher Sohn. Ein vielleicht ganz typischer Vertreter jener westlichen Altersgruppe, die in den 70er-Jahren jung war, und für die wir keine bessere Bezeichnung gefunden haben als »Hippie-Generation«.

Zugleich ist Chaim Lubelski in gewisser Weise ein Repräsentant für das, was viele Kinder von Schoa-Überlebenden prägt. Spillers Film beobachtet ihn im Alltag, begleitet ihn, wenn er sich in rührender Weise um seine Mutter kümmert, lässt Mutter und Sohn zu Wort kommen und erzählt Chaims Leben. Der Film ist eine Mischung aus Dokumentarfilm und freiem essayistischen Erzählen, eine Meditation über das Leben und worauf es darin am Ende ankommt. Wie könnte er anders heißen als L’Chaim!, »Auf das Leben!«?

Regisseur Elkan Spiller wurde 1963 in Köln geboren und kennt das, wovon er erzählt aus eigener Erfahrung. Auch sein Vater überlebte die Lager. Chaim Lubelski, der vom Alter her sein Onkel sein könnte, ist sein Cousin. Der Regisseur lässt seinen Film auch zu einer Stimme seiner eigenen Generation werden. Diese Generation ist von der Erfahrung der Eltern gezeichnet.

Sie lässt sie nicht los. Manche versuchen, sie mit Gewalt abzustreifen, andere, sie zu ignorieren, doch die Traumata holen auch sie, die Nachgeborenen, fast immer auf die eine oder andere Weise ein. »Ich bin als Jude geboren und werde als Jude sterben«, sagt Chaim gegen Ende des Films: »Meine Großeltern haben dafür, dass sie Juden waren, ihr Leben verloren. Was das bedeutet, versteht keiner, der es nicht erlebt hat. Man kann das nicht verstehen.«

ausbruch Chaim Lubelskis Vater war vom Konzentrationslager auch körperlich schwer geschädigt. Nur mit Morphium konnte er seine ständigen Schmerzen etwas lindern. Der Sohn las alle möglichen medizinischen Veröffentlichungen, um helfen zu können, fraß seine Gefühle dabei in sich hinein. Dann kam der Ausbruch, der auch ein Aufbruch ins Leben war. Lubelski verließ die Familie, zog nach New York, verkaufte von dort aus Jeans und wurde damit reich. Von dem Geld finanzierte er seine Eltern, kümmerte sich zugleich um sozial Bedürftige seines Viertels. Irgendwann verlor er bei Spekulationsgeschäften seine ganzen MillionenM wieder.

Danach lebte Chaim Lubelski die Sommer über in St. Tropez, war Teil des Côte-d’Azur-Jet-Sets, und verdiente sein Geld als halbprofessioneller Schachspieler. Auch als Zuschauer wird man schnell vom Charme dieses Mannes gefangen, von seinem Charisma berührt, und versteht schnell, was so viele unterschiedliche Menschen an diesem Chaim faszinierte. »Ich erinnere mich noch gut an den Chaim meiner Kindheit«, erzählt Elkan Spiller: »Wenn er uns be-suchte, wirkte er wie eine schillernde Figur. Ein weltgewandter Typ, der alles Mögliche zu kennen schien.«

Im Alter von 63 Jahren siedelte Lubelski ins belgische Antwerpen um. Seine Mutter, inzwischen weit über 90, ging nach dem Tod ihres Mannes in ein Altersheim. Der Sohn zog ebenfalls nach Antwerpen, wo die beiden zusammen in einem Einzimmer-Appartement lebten. Elkan Spiller sammelt und montiert Fragmente aus dem Leben seines Cousins und vor allem der letzten Lebensphase von dessen Mutter, lässt sie beide ausgiebig zu Wort kommen, einschließlich der Witze, die sie über das KZ machen. Die Mutter sagt:»Man hat mir die Haare rasiert.« Chaim: »Nu! Heute modern, Mutti!«

Regisseur Spiller sucht in dem Film auch ein wenig nach seiner eigenen Identität und den Erinnerungen seiner eigenen Familie. In älteren Filmdokumenten wird dieses Familienleben – und damit auch ein recht typisches Leben europäischer Juden nach der Schoa – rekonstruiert.

optimismus L’Chaim ist ein Film über Wahrheiten, aber auch über Lügen und Legenden. Chaims Schwester starb an Medikamentenvergiftung, doch der Sohn hält, um die Mutter zu schonen, die Lüge aufrecht, die Tochter lebe in Israel in einem Rehabilitationszentrum.

Es wird viel gelacht in diesem Film. Chaim hat eine positive Einstellung zum Leben, und die steckt alle seine Mitmenschen an. »Mein Leben ist ein selbst gewähltes Leben. Der Wert der Tatsache, dass ich mich um meine Mutter kümmere, übersteigt alles andere. Das, was ich tue, befriedigt mich.«

Chaim hofft, mit der Dokumentation auch etwas gegen den in Deutschland wachsenden Antisemitismus ausrichten zu können. Das war sein Beweggrund, sich für den Film zur Verfügung zu stellen: »Wenn ein einziger Mensch, der etwas gegen Juden hat, der sie hasst, den Film sieht, mich als Mensch sieht und anerkennt und dadurch in seinem Antisemitismus nachhaltig verunsichert wird, seinen Hass verliert, dann hat sich dieser Film aus meiner Sicht bereits gelohnt.«

Er habe, sagt Elkan Spiller, noch viele, viele Stunden Material, das er mit seinem Cousin gedreht habe, das nicht in L’ Chaim! Eingang fand. »Allein schon seine Zeit in St. Tropez wäre einen ganz eigenen Film wert. Es wäre allerdings auch ein ganz anderer Film.«

»L’Chaim!« läuft noch einmal auf demFilmfest am Freitag, den 4. Juli, um 14.30 Uhr im Kino »Münchner Freiheit«.

Meinung

Der Fall Samir

Antisemitische Verschwörungen, Holocaust-Relativierung, Täter-Opfer-Umkehr: Der Schweizer Regisseur möchte öffentlich über seine wirren Thesen diskutieren. Doch bei Menschenhass hört der Dialog auf

von Philipp Peyman Engel  22.04.2024

Essay

Was der Satz »Nächstes Jahr in Jerusalem« bedeutet

Eine Erklärung von Alfred Bodenheimer

von Alfred Bodenheimer  22.04.2024

Sehen!

Moses als Netflix-Hit

Das »ins­pirierende« Dokudrama ist so übertrieben, dass es unabsichtlich lustig wird

von Sophie Albers Ben Chamo  22.04.2024

Immanuel Kant

Aufklärer mit Ressentiments

Obwohl sein Antisemitismus bekannt war, hat in der jüdischen Religionsphilosophie der Moderne kein Autor mehr Wirkung entfaltet

von Christoph Schulte  21.04.2024

TV

Bärbel Schäfer moderiert neuen »Notruf«

Die Autorin hofft, dass die Sendung auch den »echten Helden ein wenig Respekt« verschaffen kann

von Jonas-Erik Schmidt  21.04.2024

KZ-Gedenkstätten-Besuche

Pflicht oder Freiwilligkeit?

Die Zeitung »Welt« hat gefragt, wie man Jugendliche an die Thematik heranführen sollte

 21.04.2024

Memoir

Überlebenskampf und Neuanfang

Von Berlin über Sibirien, Teheran und Tel Aviv nach England: Der Journalist Daniel Finkelstein erzählt die Geschichte seiner Familie

von Alexander Kluy  21.04.2024

Glosse

Der Rest der Welt

Nur nicht selbst beteiligen oder Tipps für den Mietwagen in Israel

von Ayala Goldmann  20.04.2024

Frankfurt am Main

Bildungsstätte Anne Frank zeigt Chancen und Risiken von KI

Mit einem neuen Sammelband will sich die Institution gegen Diskriminierung im digitalen Raum stellen

von Greta Hüllmann  19.04.2024