Essay

Der »ehrbare« Antisemitismus

Essay

Der »ehrbare« Antisemitismus

Warum die wiederveröffentlichten Texte des Schriftstellers Jean Améry aktueller sind denn je

von Ralf Balke  12.08.2024 10:07 Uhr

Man möchte sich die Augen reiben. Seit Monaten beherrscht das, was gemeinhin als »neuer Antisemitismus« etikettiert wird, und zwar der unter dem Deckmantel des Antizionismus grassierende Hass gegen Israel in den sich progressiv nennenden Milieus, die Debatten. Und da erscheint jetzt ein Büchlein mit genau diesem Titel aus der Feder des 1978 verstorbenen Schriftstellers Jean Améry, das Essays enthält, die teilweise über 50 Jahre alt sind.

Bei der Lektüre stellt man überraschend fest, dass das Phänomen alles andere als neu ist. Vielleicht noch an der Sprache, die aufgrund der Herkunft des Autors – Améry wurde 1912 als Hans Mayer in Wien geboren – einen gewissen K.-u.-k.-Duktus transportiert, lässt sich ablesen, dass die Texte älteren Datums sind. Ansonsten bestechen sie durch ihre Aktualität und einen ganz besonderen Verve.

»Wer die Existenzberechtigung Israels infrage stellt, der ist entweder zu dumm, um einzusehen, dass er bei der Veranstaltung eines Über-Auschwitz mitwirkt, oder er steuert bewusst auf dieses Über-Auschwitz hin«, schreibt Améry, der selbst mehrere Konzentrationslager überlebt hatte, beispielsweise in seinem Essay »Juden, Linke – linke Juden«. Und er formuliert das Ganze aus der Perspektive eines atheistischen Linken, der dem Judentum eher indifferent gegenüberstand, aber von Nationalsozialisten zu seinem – nach eigenen Worten – »Judesein« verurteilt wurde.

»Fest steht: Der Antisemitismus, enthalten im Anti-Israelismus oder Anti-Zionismus wie das Gewitter in der Wolke, ist wiederum ehrbar.«

Jean Améry

Zudem erkannte Améry das, was in späteren Jahren von der Forschung die Bezeichnung Entlastungsantisemitismus erhielt, schon damals. »Fest steht: Der Antisemitismus, enthalten im Anti-Israelismus oder Anti-Zionismus wie das Gewitter in der Wolke, ist wiederum ehrbar.« Oder anders ausgedrückt: Man sei ja nicht für die Vernichtung der Juden, fände es aber durchaus erstrebenswert, wenn der Staat Israel verschwindet.

Dass diese Forderung ebenfalls millionenfachen Mord mit sich bringen könnte, wird entweder nicht erkannt oder als Petitesse hingenommen. Es ist genau diese moralische Verwahrlosung und Indifferenz gegenüber den dort lebenden Juden, deren Ende billigend in Kauf genommen wird, für die Améry ein passendes Begriffspaar geschaffen hat, und zwar »ehrbaren Antisemitismus«.

Zudem beobachtete er, wie im Bewusstsein der Linken die historische Verantwortung für die Schoa sukzessiv einem Moralismus zugunsten des Globalen Südens wich, wobei es ziemlich egal schien, ob diese echten oder vermeintlich Geknechteten diktatorisch oder massenmörderisch unterwegs waren – gern bekamen sie das Prädikat »progressiv« verliehen. Den Palästinensern kam in diesem Kontext eine ganz besondere Rolle zu. Sie mutierten zu den neuen revolutionären Subjekten und dienten dabei letztendlich doch nur als Strohmänner, um die eigenen antisemitischen Ressentiments auszuleben. Auch das kommt einem sehr bekannt vor aus aktuellen Debatten.

An genau dieser Verlogenheit derer, denen er sich politisch doch stets nahe fühlte, sollte Améry geradezu verzweifeln – nicht zuletzt deshalb, weil die Linke sich dabei auch so mancher Stereotype und Geschichtsbilder bediente, die eigentlich bei ihren politischen Gegnern und Rechtsex­tremen Tradition haben. Als zentrales Motiv dahinter sieht er den steten Drang, »gewisse Schuldgefühle« abzutragen. »Jedermann konnte reden wie die Deutsche National- und Soldaten-Zeitung; wer links stand, war befähigt, noch Jargon des Engagements routinemäßig zu exekutieren.«

Selten hat jemand all diese Phänomene sprachlich so luzide auf den Punkt gebracht wie Améry in dieser Essay-Sammlung. Und nicht erst die Ereignisse in den Monaten nach dem 7. Oktober zeigen, wie zeitlos seine Beobachtungen und Analysen sind. Für manche sollten sie daher Pflichtlektüre sein.

Jean Améry: »Der neue Antisemitismus«. Mit einem Vorwort von Irene Heidelberger-Leonard. Klett-Cotta, Stuttgart 2024, 128 S., 18 €

Debatte

Neue Leitlinie zum Umgang mit NS-Raubgut für Museen und Bibliotheken

In Ausstellungshäusern, Archiven und Bibliotheken, aber auch in deutschen Haushalten finden sich unzählige im Nationalsozialismus entzogene Kulturgüter. Eine neue Handreichung soll beim Umgang damit helfen

von Anne Mertens  27.11.2025

Fernsehen

Abschied von »Alfons«

Orange Trainingsjacke, Püschelmikro und Deutsch mit französischem Akzent: Der Kabarettist Alfons hat am 16. Dezember seine letzte Sendung beim Saarländischen Rundfunk

 27.11.2025

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 27. November bis zum 3. Dezember

 27.11.2025

Fernsehen

Zieht Gil Ofarim ins Dschungelcamp? 

RTL kommentiert noch keine Namen - doch die Kandidaten-Gerüchte um Gil Ofarim und Simone Ballack sorgen schon jetzt für reichlich Gesprächsstoff

von Jonas-Erik Schmidt  27.11.2025

Rezension

Ein Feel-Good-Film voller kleiner Wunder

Ein Junge, der nicht laufen kann, Ärzte, die aufgeben, eine Mutter, die unbeirrt kämpft. »Mit Liebe und Chansons« erzählt mit Herz und Humor, wie Liebe jede Prognose überwindet

 27.11.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Imanuel Marcus, Katrin Richter  27.11.2025

Kino

Echte Zumutung

Ronan Day-Lewis drehte mit seinem Vater Daniel als Hauptfigur. Ein bemühtes Regiedebüt über Gewalt und Missbrauch

von Maria Ossowski  27.11.2025

Das Ausmalbuch "From the river to the sea" in einer Buchhandlung in Zürich.

Meinung

Ausmalen gegen die Realität

Kinderbücher sollten nicht dazu instrumentalisiert werden, Kinder niederschwellig zu prägen

von Zsolt Balkanyi-Guery  27.11.2025

Hans-Jürgen Papier

»Es ist sehr viel Zeit verloren gegangen«

Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts zieht eine Bilanz seiner Arbeit an der Spitze der »Beratenden Kommission NS-Raubgut«, die jetzt abgewickelt und durch Schiedsgerichte ersetzt wird

von Michael Thaidigsmann  26.11.2025