Es war das Jahr 1907, Thomas Mann war 32 Jahre jung und infolge des Romans Die Buddenbrooks der erfolgreichste Autor seiner Generation. So wurde er auch im Zuge einer Rundfrage von Julius Moses, Arzt und Politiker, kontaktiert. Sie trug den Titel »Die Lösung der Judenfrage«. Gleich zum Auftakt stellte Mann – der vor 150 Jahren, am 6. Juni 1875, in Lübeck geboren wurde – in seiner Antwort fest, dass er nicht Jude sei, auch wenn der Publizist Adolf Bartels dies kurz zuvor behauptet hätte.
Dieser völkische hypernationalistische Literaturpöbler hatte in seinem im Jahr zuvor erschienenen 884-seitigen Handbuch zur Geschichte der deutschen Literatur, das in einer erstaunlich hohen Auflage gedruckt worden war, den Lübecker Senatorensohn wüst diffamiert. Der habe mit den Buddenbrooks hinlänglich bewiesen, Freude am Verfall wie an Dekadenz zu haben. In diesem Untergangsroman »habe (er) unbedingt für das jüdische Halbblut gegen die alte patrizische Familie Partei« ergriffen – überflüssig zu sagen: eine völlig abwegige These, die von keinem Satz der vielen Sätze des dicken Romans gestützt wird.
Es reichte, um 1900 Ironie zu haben und ironisch, gar satirisch zu schreiben, um als jüdisch zu gelten. Bartels, ungerührt von Faktischem: Literarisch gehöre Mann »auf alle Fälle zu den Juden«.
Die Erzählung »Wälsungenblut« von 1906 kann nur antijüdisch genannt werden.
Vielleicht war bis zu Bartelsʼ Wohnort in Weimar vorgedrungen, dass Thomas Mann im Februar 1905 in eine der reichsten jüdischen Familien Münchens eingeheiratet hatte. Er hatte Katharina Pringsheim geehelicht (1883–1980), von allen »Katia« genannt. Die Tochter des Mathematikprofessors und Mäzens Alfred Pringsheim war 1901 die erste Frau, die in München das Abitur ablegte und mit Extra-Antrag – erst 1903 war Frauen in Bayern ein Hochschulstudium regulär möglich – Vorlesungen in Mathematik und Philosophie hörte.
Die Pringsheims residierten in einem großen Neorenaissance-Stadtpalais in der Arcisstraße 12 in der Maxvorstadt. Vor 1914 kreuzten sich im Salon des prächtigen Domizils die Wege von Politikern, Intellektuellen und Autoren. Walther Rathenau war ebenso zu Gast wie Hugo von Hofmannsthal.
1907 lebte Thomas Mann mit Frau und den Kindern Erika und Klaus in der Franz-Joseph-Straße 2 in Schwabing. In der Umfrage bezeichnete er sich als »überzeugten und zweifellosen ›Philosemiten‹«. Er glaube »steif und fest, dass ein Exodus, wie die Zionisten von der strengen Observanz ihn träumen, ungefähr das größte Unglück bedeuten würde, das unserem Europa zustoßen könnte«. Judentum sei für ihn, formulierte er, ein unentbehrlicher europäischer Kultur-Stimulus.
Dann offenbarte er wenige Sätze weiter genau das Gegenteil und lieferte, für diesen bewussten Stilisten merkwürdig beiläufig, gallige Karikaturen jüdischer Ghettos und physiognomische Zerrbilder. Dass dies keine Momentaufnahme war, zeigte sich zwei Jahre später, als er in seinem Roman Königliche Hoheit den jüdischen Arzt Dr. Sammet fast wörtlich das sagen ließ, was er 1907 auf das Rundschreiben geantwortet hatte.
Stigmata und Selbstbehauptungsmodelle
Der Göttinger Germanist und Thomas-Mann-Herausgeber Heinrich Detering attestierte Mann eine ambivalente Einstellung zu Juden und Judentum. Manns Frühwerk wimmele von Stigmata und Selbstbehauptungsmodellen, seien es Frauen und Künstlerinnen, seien es – wie Der kleine Herr Friedemann – emotional komplett Überforderte. Das »so selbstbewusst-offensiv vorgeführte und scheinbar so erfolgreiche Stigma-Management« (Detering) schlage jederzeit um in Selbsthass und Selbstekel.
1908 schrieb Mann einen Essay über Jakob Wassermann, den jüdischen Romancier aus Fürth. (Wie es der stadtgeografische Zufall will, gibt es heute rund 15 Gehminuten entfernt von der Poschingerstraße in Bogenhausen, 1910 bis 1933 Standort der Villa Thomas Manns, den zehn Meter kurzen Jakob-Wassermann-Weg.) Manns Text über Wassermanns Roman Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens kreist um Außenseitertum explizit des Judentums, implizit der Homosexualität, um Marginalisierung, Stigmatisierung und Assimilationsdruck.
Ambivalenz, auf diesen Befund hat sich seit geraumer Zeit die Thomas-Mann-Forschung geeinigt. Mehrdeutigkeit als kalkulierte erzählerische Strategie, Gegensätze auf engstem Raum zusammenzudrängen und miteinander kollidieren zu lassen, um so humoristische, parodistische, ironische Funken zu schlagen und zu erzeugen. Ein Interpret meinte, Manns Romane seien »meist Gedankenexperimente, an deren Ende die Relativierung aller scheinbar legitimen Positionen steht«. Und: »Gerade die schärfsten Profilierungen dienen im Ganzen des Romans als Material für das höhere Spiel der Ideologiekritik.«
Er wandelte sich vom nationalistischen Kulturkonservativen zum Demokraten.
Das klingt abstrakt. Sehr konkret hingegen waren die literarisch-publizistischen Fehden, die Thomas Mann mit Alfred Kerr oder Theodor Lessing, beide Juden, ausfocht, aber auch karikierende Beschreibungen, sodass Figuren wie Dr. Leander in Tristan oder der Kunsthändler Blüthenzweig in der Erzählung Gladius Dei, einer Art Savonarola-Parodie, umgehend als jüdisch zu erkennen sind. Ebenso Leo Naphta in Der Zauberberg.
Nach dem Ersten Weltkrieg nahm Mann die Arbeit an diesem Roman wieder auf. Als das Buch Ende 1924 erschien, hatte er sich vom nationalistischen Kulturkonservativen (was seine während des Kriegs geschriebenen Betrachtungen eines Unpolitischen heute so unlesbar und unappetitlich macht, da können sich Germanisten mit editorischen Ehrenrettungen noch so mühen) zum Demokraten gewandelt. In der Weimarer Republik wurde der Schriftsteller zum Gesicht und zum Repräsentanten der demokratischen Kultur.
»Das einzige literarische Werk deutsch-jüdischer Symbiose von nichtjüdischer Seite«
Mit Joseph und seine Brüder schrieb Mann dann eine gewaltige Roman-Tetralogie, deren erster Band symbolstark im Oktober 1933 erschien und als Widerstand gegen das Hitler-Regime verstanden werden konnte – und auch wurde. Dabei hatte der Autor das Manuskript schon 1930 abgegeben. Dieses Romanepos ist wohl, konstatierte Ruth Klüger einmal, das einzige literarische Werk deutsch-jüdischer Symbiose von nichtjüdischer Seite. Aber ob des Umfangs wohl heutzutage wenig gelesen, zu wenig.
In den Reden, die Thomas Mann nach seiner Emigration in die USA 1938 für die BBC schrieb und einsprach, informierte er seine deutschen Hörer eindringlich und mit nachzulesendem Furor über die Schoa in Europa. 1943 prangerte er in einer Rede vor 10.000 Zuhörern in San Francisco die »wahnsinnige Entschlossenheit zur totalen Ausrottung des europäischen Judentums« an. 1944 bezeichnete er die Idee des Zionismus in einem Beitrag für eine Festschrift für den zionistischen Politiker Chaim Weizmann als »heute nicht länger kontrovers«.
Das Buch Was gut ist und was böse. Thomas Mann als politischer Aktivist (2024) des Münsteraner Literaturprofessors Kai Sina liefert dazu den entsprechenden Hintergrund. Sina, der auf bisher nicht gedruckte Editionskommentare zu Manns essayistischem Werk zurückgreifen konnte – er ist Co-Herausgeber dieser Bände –, präsentiert Mann als extrem eifrigen Redner, rührigen Stellungnehmenden und politisch so engagiert wie enorm umtriebig. Er reagierte auf die Forderung eines jeden neuen Tages.
Zunächst war es ein »kultureller Zionismus«, zu dem sich Thomas Mann bekannt hatte – erst mit der Kenntnis der Schoa wurde es ein »politischer Zionismus« einschließlich eindeutiger Parteinahme für den jungen Staat Israel und Bangen ob des Überfalls der feindlich gesinnten arabischen Nachbarn 1948.
Die Schoa führte zu Thomas Manns Bekenntnis als »politischer Zionist«.
Vier Jahre zuvor war Thomas Mann US-amerikanischer Staatsbürger geworden. In den 40er-Jahren schrieb er auch an seinem komplexen Roman Doktor Faustus. Dieses Buch, eine Spiegelung deutscher Schuldverwicklung in Mythos und Historie, in dem die Schilderung zweier jüdischer Figuren, Saul Fitelberg und Chaim Breisacher, ob antisemitischer Akzentuierung bis heute Bauchgrimmen auslöst, wurde erst 1992 ins Hebräische übersetzt.
1906 hatte Thomas Mann mit Wälsungenblut eine Erzählung geschrieben, die nicht anders als antijüdisch zu nennen ist – kurz vor Veröffentlichung in einer Zeitschrift hatte er sie panisch zurückgezogen. Erst 1921 erschien sie im Druck.
Aus den USA nach Zürich
Im Jahr 1952 übersiedelte Thomas Mann aus den USA nach Zürich. Dort starb er 1955. In seinen letzten Jahren stellten sich bei ihm, wie etwa in seinen Tagebüchern nachzulesen ist oder kurz vorher an der Figur des aus antisemitischen Klischees collagierten Fitelberg unübersehbar wurde, gelegentlich wieder zweideutige Urteile ein.
Der Germanist Guy Stern, der 16-jährig 1937 Nazi-Deutschland verlassen konnte, im Krieg einer der sogenannten Ritchie Boys war, einer aus jüdischen Emigranten gebildeten Nachrichteneinheit, und später in den USA ein namhafter Hochschullehrer wurde, brachte das so pointiert wie erhellend auf den Punkt. Thomas Mann zeichne, so der Professor an der Wayne State University in Detroit, die »jüdische Welt« ausgehend von der in seinen frühen Jahren etablierten Leitprämisse, den Juden komme eine »Sonderstellung« zu – sei es »im Guten oder Bösen«.
Der Literaturwissenschaftler Kai Sina resümiert diese Ambivalenzen des Schriftstellers in Bezug auf das Judentum final versöhnlich als Fazit einer 50 Jahre währenden »intellektuellen Selbstrevision in Permanenz«.