Geschichte

Das Rätsel von Dahlem

Das frühere Kaiser-Wilhelm-Institut in der Harnackstraße Foto: dpa

Auf dem Heckenstreifen zwischen dem Gehweg an der Harnackstraße und der Bibliothek der Freien Universität Berlin stehen 15 Grablichter. Jemand hat drei Sträuße Narzissen niedergelegt. Nichts deutet darauf hin, wessen hier gedacht wird. Ein Rätsel für den Passanten, genauso rätselhaft wie der Fund, der hier gemacht wurde.

Als am 1. Juli 2014 an dieser Stelle ein Sickerschacht angelegt wird, reißt ein Bagger ein Loch auf, aus dem Knochenreste rieseln. Der Polier informiert Polizei und Uni-Verwaltung. Zwei Tage lang birgt eine technische Einheit der Polizei die Überreste und übergibt in sieben Papiersäcken rund 250 Liter Knochenreste und -splitter an die Rechtsmedizin der Charité, dazu eine Ampulle mit einer braunen Flüssigkeit, zehn Plastikmarken, wie sie in wissenschaftlichen Sammlungen verwendet werden, und einen zerbrochenen Keramikteller.

Rassenhygiene An der Charité untersuchte man im Auftrag der Polizei das Alter der Funde, und ob ein Verbrechen vorlag. Die Knochen lagen offensichtlich schon seit Jahrzehnten in der Erde, steht im Gutachten, sie waren stark verwittert. Es handelt sich um Erwachsene und Jugendliche, eine »sichere Geschlechtszuordnung gelingt nicht«, anhand von »30 Gelenkköpfen von Oberschenkelknochen« geht man von »mindestens 15 Individuen« aus. Es gibt keine Sägespuren einer Amputation. In der Ampulle befand sich das Anästhetikum Procain, die Marken erinnern an »Markierungen für biologische/medizinische Präparate«. Ein Ermittlungsverfahren wurde nicht eingeleitet.

Doch in der Nachbarschaft liegt das Otto-Suhr-Institut. Die Politikwissenschaft der FU residiert in dem Haus, in dem in der NS-Zeit das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik (KWI-A) saß. Dort wurde an den pseudowissenschaftlichen Grundlagen der Rassenhygiene geforscht. Hierher lieferte Josef Mengele Präparate aus Auschwitz. Hier lagerten medizinische Sammlungen aus der ganzen Welt, aus kolonialen Zeiten und aus Zeiten der NS-Diktatur. Der Knochenfund, knapp 100 Meter vom Hintereingang dieses Baus entfernt, ließ an der FU die Alarmglocken schrillen.

Bestattung Sechs Tage nach dem Fund informierte die Uni die Polizei über die räumliche Nähe des Fundorts zum KWI-A und schrieb: »Die Universität will auch aus wissenschaftlichen Gründen die Herkunft und zeitliche Einordnung des Fundes zuordnen können.« Bei der Polizei verstand man den Ernst der Lage nicht. »Ich hatte bis dahin noch nie von einem Kaiser-Wilhelm-Institut gehört«, sagt Pressesprecher Stefan Redlich. Auch an der Charité wusste man damit nichts anzufangen: »Als ich das hörte, dachte ich an Willem zwo und nicht an Auschwitz«, sagt Michael Tsokos, Leiter der Rechtsmedizin. Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Abteilung Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft, erklärt sich für nicht zuständig. Die Knochenreste werden am 16. Dezember auf dem Friedhof Ruhleben eingeäschert und anonym bestattet.

Über Monate also kommunizierten die zuständigen Stellen aneinander vorbei. Die FU konnte die Dringlichkeit der Angelegenheit nicht deutlich machen. Wäre einmal ein Codewort wie »Opfer des Nationalsozialismus« gefallen, hätten die Zahnrädchen neu ineinander gegriffen. Wie sagt Michael Tsokos von der Rechtsmedizin der Charité so schön: »Wenn ich die Worte Auschwitz, Holocaust, Mengele gehört hätte, hätte ich alles gestoppt und das vorhandene Material von Spezialisten untersuchen lassen.«

Unrechtsbewusstsein Um wessen Knochen es sich bei dem Fund handelt, wird für immer im Unklaren bleiben. Waren es Opfer aus Auschwitz, wie der Historiker Götz Aly vermutete? Waren es Reste einer Sammlung aus der Kolonialzeit, die hektisch vergraben wurden? Hat der Fund vielleicht gar nichts mit dem KWI-A zu tun? Die Art und Weise, wie er verbuddelt wurde, wahrscheinlich unter einer Hecke im Vorgarten der Anlage, deutet auf ein gewisses Unrechtsbewusstsein hin. »Wenn die Bauarbeiten auf dem Gelände der Universitätsbibliothek abgeschlossen sind«, sagt Goran Kristin, Pressesprecher des FU-Präsidenten, »soll an dieser Stelle ein Gedenkstein daran erinnern. Hierzu wird auch eine Arbeitsgruppe mit Wissenschaftlern der Freien Universität gebildet.«

Alle weiteren Mutmaßungen bleiben Spekulation. Anhand von DNA-Analysen hätte man vielleicht Verwandtschaftsgrade feststellen können, was im Hinblick auf die Zwillingsforschung am KWI-A relevant hätte sein können. Man hätte mittels einer Isotopenuntersuchung etwas über die Herkunft der Menschen erfahren können, über deren Ernährungs- oder Mangelernährungsverhalten. Das genaue Alter hätte bestimmt werden können. So steht alles im Konjunktiv, die Überreste bleiben verbrannt, und die 15 Grablichter in der Harnackstraße verweisen auf eine traurige, wohl für immer unklärbare Geschichte.

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