Saul Tschernichowski

Das Lied der Sieger

Das Werk des hebräischen Dichters erscheint erstmals auf Deutsch – in einer opulenten dreibändigen Ausgabe

von Anat Feinberg  29.04.2020 15:49 Uhr

Dichterischer Rebell: Saul Tschernichowski, Ende der 20er-Jahre Foto: cc

Das Werk des hebräischen Dichters erscheint erstmals auf Deutsch – in einer opulenten dreibändigen Ausgabe

von Anat Feinberg  29.04.2020 15:49 Uhr

»Ich trage das Lied der Sieger. Und als Sieger will ich durch die Welt gehen», schrieb Saul Tschernichowski 1906 – und fügte hinzu: «Auch der Jude in mir trug das Lied der Sieger.» Er und Chayim Nachman Bialik waren die prägenden Stimmen der vorstaatlichen hebräischen Dichtung.

Bialik war der Nationaldichter, Tschernichowski der dichterische «Rebell».

Bialik wurde alsbald zum Nationaldichter erhoben, Tschernichowski war der dichterische «Rebell», der neue lyrische Formen einführte und Meisterwerke der europäischen Literatur von Homer, Shakespeare, Goethe und anderen ins Hebräische übersetzte. Bereits Anfang der 20er-Jahre konnte der deutschsprachige Leser eine Auswahl übersetzter Bialik-Gedichte genießen. Tschernichow­skis Werk hingegen blieb weitgehend unzugänglich.

Jörg Schulte, Professor für Slawische Literaturen an der Universität zu Köln, hat nun Abhilfe geschaffen: In drei Bänden (deren dritter ein ausführlicher Kommentarband ist) liegt Tschernichowskis Werk nun endlich in deutscher Sprache vor – eine späte Genugtuung und eine Leistung, der Dank und Bewunderung gebührt.

ORTSNAMEN Hebräisch lernte der 1875 in Mikhailovka (heute Ukraine) geborene Tschernichowski mit fünf Jahren, später kamen neben Russisch auch Deutsch, Englisch, Französisch, Griechisch und Latein hinzu. Ungewöhnlich war auch sein Werdegang. Er entschied sich für die Medizin, studierte in Heidelberg (wo er die russisch-orthodoxe Melania heiratete) und in Lausanne, diente als Militärarzt in der russischen Armee und hielt sich von 1923 bis 1931 in Deutschland auf. Dies erklärt, weshalb am Ende mehrerer Gedichte deutsche Ortsnamen, etwa Berlin und Swinemünde, stehen.

Das Gedicht «Am Meer von Jaffa» entstand im brandenburgischen Fichtengrund.

Da er als Arzt offiziell nicht zugelassen war, war er in Deutschland auf die Hilfe seiner Bewunderer angewiesen: Er kam übrigens regelmäßig «zur Kost» auch in das Berliner Haus meiner Großmutter (deren jiddischen Vornamen er hebraisierte, auf dass er nicht zu «galuti», diasporabehaftet, klinge). Sechs Jahre nach seinem ersten Besuch in Eretz Israel wanderte er schließlich im Mai 1931 ein und war dort bis zu seinem Tod 1943 als Kinderarzt an Schulen tätig.

SONETTE «Oh, Gottes Wunderland!», so beginnt sein Gedicht «Am Meer von Jaffa» – 1929 im brandenburgischen Fichtengrund geschrieben! – und weiter: «Wir sind noch für dich da, noch wirst du stets gebaut: / im Gold, mit Pflug und Pfeil! Mit unser Schweiß und Blut! / Wenn nur ein Wunder dies ermöglicht – so geschehe es!»

Neben dem «Versuch einer Autobiographie», in dem der Dichter seine Familie und Kindheit malerisch beschreibt, sind zum ersten Mal auf Deutsch seine bahnbrechenden poetischen Werke zu lesen. Zum einen die Sonette, die er mit hebräischer Eigenart und Farbe bereichert, darunter der Sonettenkranz «An die Sonne»: «Wie teuer du mir bist, Sonett, oh Lied aus Gold! / Schon seit der Renaissance bist du uns eine Weisung» – so die ersten Zeilen seines «Auf das hebräische Sonett». Zum anderen die Idyllen, die Gattung des epischen Poems, die er in die hebräische Literatur einführte. In den Idyllen, so etwa «Brit Mila» und «Kreplach» (auf Hebräisch Lewiwot), lässt er die Welt, die er verlassen hatte, wiederauferstehen, beschreibt den Alltag, ruft Gerüche und Klänge in Erinnerung.

Wegen seiner Verehrung der antiken Kultur galt er manchen Zeitgenossen als «Hellenist».

Der jüdische Junge Berele wird – in der gleichnamigen Idylle – krank, nachdem er dem Kater eine vermeintliche Delikatesse entwendet hatte, ein Stück Kischke. Tschernichowski schildert das bescheidene Leben des ländlichen Judentums sowie die volksmedizinische Kunst der wundersamen Heilung des kranken Kindes.

HEXAMETER Nicht zuletzt enthält die Ausgabe auch das berühmte Gedicht «Vor der Apollostatue» (bereits 1899 verfasst!): «Ich bin gekommen, vergessener Gott, / Gott alter Zeiten und anderer Tage, / Herr über Ströme erblühender Menschen, / Kräfte der Jugend in kraftvollen Wellen!» Wegen seiner Verehrung der griechischen Götter und der antiken nichtjüdischen Kultur sowie seiner Bewunderung für apollinische Schönheit galt Tschernichowski in den Augen vieler Zeitgenossen – Kritikern und Anhängern gleichermaßen – als «Hellenist».

Im Vergleich zu Bialik, dem Nationaldichter und traditionsbewussten Juden, war Tschernichowski in seinem eigenen Leben und in seiner Dichtung für viele der Andersdenkende, gar Außenseiter, derjenige, der – wie er es selbst formulierte – «das Lied der Sieger» trägt.

Der Übersetzer und Herausgeber verdient das höchste Lob. Aus dem außergewöhnlich reichen, betörenden Hebräisch Tschernichowskis, das selbst viele Israelis heute nicht mehr mühelos verstehen, übertrug Jörg Schulte die Gedichte in deutsche Hexameter und bewahrte in den Sonetten den Rhythmus des Originals. Wahrlich ein Geschenk für Liebhaber der hebräischen Literatur!

Saul Tschernichowski: «Dein Glanz nahm mir die Worte». Drei Bände. Aus dem Hebräischen übersetzt und herausgegeben von Jörg Schulte. Edition Rugerup, Berlin 2020, 920 S., 99,90 €

Potsdam

Chronist der neuen Weiblichkeit

Das Museum Barberini zeigt Modiglianis Menschenbilder in neuem Licht

von Sigrid Hoff  25.04.2024

München

Ausstellung zeigt Münchner Juden im Porträt

Bilder von Franz von Lenbach und anderen sind zu sehen

 25.04.2024

Los Angeles

Barbra Streisand: Lovesong als Zeichen gegen Antisemitismus

Für die Serie »The Tattooist of Auschwitz« singt sie das Lied »Love Will Survive«

 25.04.2024

Kommentar

AfD in Talkshows: So jedenfalls nicht!

Die jüngsten Auftritte von AfD-Spitzenpolitikern in bekannten Talk-Formaten zeigen: Deutsche Medien haben im Umgang mit der Rechtsaußen-Partei noch viel zu lernen. Tiefpunkt war das Interview mit Maximilian Krah bei »Jung & Naiv«

von Joshua Schultheis  24.04.2024

Meinung

Der Fall Samir

Antisemitische Verschwörungen, Holocaust-Relativierung, Täter-Opfer-Umkehr: Der Schweizer Regisseur möchte öffentlich über seine wirren Thesen diskutieren. Doch bei Menschenhass hört der Dialog auf

von Philipp Peyman Engel  22.04.2024

Essay

Was der Satz »Nächstes Jahr in Jerusalem« bedeutet

Eine Erklärung von Alfred Bodenheimer

von Alfred Bodenheimer  22.04.2024

Sehen!

Moses als Netflix-Hit

Das »ins­pirierende« Dokudrama ist so übertrieben, dass es unabsichtlich lustig wird

von Sophie Albers Ben Chamo  22.04.2024

Immanuel Kant

Aufklärer mit Ressentiments

Obwohl sein Antisemitismus bekannt war, hat in der jüdischen Religionsphilosophie der Moderne kein Autor mehr Wirkung entfaltet

von Christoph Schulte  21.04.2024

TV

Bärbel Schäfer moderiert neuen »Notruf«

Die Autorin hofft, dass die Sendung auch den »echten Helden ein wenig Respekt« verschaffen kann

von Jonas-Erik Schmidt  21.04.2024