Überleben

Das kafkaeske Verschwinden meines Vaters

Helmut Ernst Kuhn mit seinem Sohn Helmut Foto: privat

Überleben

Das kafkaeske Verschwinden meines Vaters

Als Jugendlicher lehnte unser Autor Kafka ab. Später verschlang er ihn – aus Notwendigkeit

von Helmut Kuhn  02.06.2024 11:07 Uhr

Mein Vater, der Arzt Helmut Ernst Kuhn, verschwand 1977 an Bord der Segeljacht »Nordstern IV« in der Karibik unter ungeklärten Umständen. Ich war damals 14 Jahre alt und hätte mitfahren sollen, Mutter verbot es kurzerhand. Am 19. März verließ das Schiff English Harbour in Antigua, sechs Wochen später hätte es Lissabon, Portugal, erreichen müssen. Die Jacht kam nie an.

Mit an Bord waren weitere fünf Personen: der Skipper Manfred Lehnen, ein Metzgermeister aus Düsseldorf, Christine Kump, Schweizer Chemikerin und dessen Geliebte, der Kölner Arbeitsrichter Jürgen Groß, der Nürnberger Ingenieur Hugo Rösel und die Medizinstudentin Ulrike Müller. Drei Jahre später wurden sie für tot erklärt. Alle – bis auf Lehnen und Kump. Sie stehen bis heute bei der Düsseldorfer Kripo unter dem dringenden Tatverdacht, die Chartergäste umgebracht zu haben – oder an deren Tötung beteiligt gewesen zu sein.

Zwei Jahre nach dem Verschwinden des Schiffes erhielt ich auf dem Pausenhof eine Postkarte aus der Karibik. Sie war an meine Schule zugestellt worden und stammte von der zweiten Frau meines Vaters und Mutter meines Bruders: »Dein Vater lebt. Wir sind dicht auf seinen Spuren!« Zusammen mit der Freundin des Richters stellte sie auf den Inseln der Kleinen Antillen noch immer eigene Recherchen an.

Ich ahnte um diese Dunkelheit und die Abgründe

Es ist ein eigenartiges Trauma, das ein solches Verschwinden hinterlässt. Kein Todeszeitpunkt, keine konkrete Ursache, kein Grab. Keine Antworten. Nur Rätsel. In der Schule lasen wir Franz Kafka. Ich habe den Autor damals instinktiv abgelehnt: Ich ahnte um diese Dunkelheit und die Abgründe, um die Rätsel und die Qualen. Davon hatte ich selbst genug.

Lange war ich mit meinem eigenen Überleben beschäftigt. Sicher hat das ungelöste Rätsel meine Berufswahl beeinflusst. In den späten 90er -Jahren beschloss ich, der Sache als Journalist auf den Grund zu gehen. Ich besorgte mir die verstaubte, 1000-seitige Akte der Kripo Düsseldorf. Suchte »Bild«- und »Stern«-Reporter auf, die damals über den Fall geschrieben hatten. Besuchte alle Hinterbliebenen der Verschwundenen.

Hatten sich die mutmaßlich Überlebenden Lehnen und Kump doch einmal bei ihren inzwischen erwachsenen Kindern gemeldet? Was ich dabei erlebte, war so abgründig wie unerträglich. Die Katastrophe gebar neue Katastrophen. Die Mutter der Studentin hatte sich ertränkt. Die Frau des Skippers lebte im Wahn, die Söhne waren in der Schule die »Kinder des Mörders« (»Bild«) gewesen. Eine Tochter der Chemikerin ließ sich den Uterus aus dem Leib schneiden, weil sie glaubte, von der Mutter verstoßen worden zu sein.

Ich suchte zusammen mit Charly, einem Düsseldorfer Kommissar und Segler, nach Hinweisen in der Karibik. Ich stellte mir Fragen: Was führte die Leute auf dieses Schiff? Warum ging mein Vater auf diese gefährliche Reise – mein Bruder war gerade drei Monate alt? Gab es eine Katastrophe vor der Katastrophe? Wie konnte ich mich mit meinem Vater auseinandersetzen?

In diesen Jahren trieben mich die Fragen unweigerlich in Kafkas Arme

In diesen Jahren trieben mich die Fragen unweigerlich in Kafkas Arme. Und ich verschlang ihn. In seinen Büchern fand ich diese Fragen, sah das Ringen mit den Mysterien, und ich verstand, warum ich ihn als Jugendlicher gemieden hatte. Ich stieß auf seinen Brief an den Vater: die fiktive Auseinandersetzung mit dem übermächtigen, unnahbaren Vater als literarisches Mittel, nie abgeschickt. Sie führte Kafka – in meinen Augen – zur Verwandlung, weil dieser ihn einmal als Kakerlake bezeichnet hatte.

2002 erschien mein erster Roman, Nordstern, beim Verlag marebuch. Ich konnte das Rätsel lösen. Soweit möglich. Ich konnte meinen Vater verstehen, soweit das geht. Das Schrei­ben half mir. Es hatte etwas Kathartisches. Einer meiner Psychologen sagte einmal: Du bist barfuß durch dein eigenes Trauma gelatscht. Ich glaube, Franz Kafka tat das sein Leben lang.

Helmut Kuhn: »Nordstern«, marebuchverlag, Hamburg 2002, 256 S., 19,90 €, antiquarisch erhältlich.

"Imanuels Interpreten" (16)

Ethel Lindsey: Queer und funky

Die Französin mit israelischen Wurzeln bringt mit ihrem Debütalbum »Pretty Close« die 70er-Jahre zurück

von Imanuel Marcus  17.12.2025

Los Angeles

Rob und Michele Reiner: Sohn wegen zweifachen Mordes angeklagt

Am Vorabend des Mordes soll es Streit gegeben haben. Im Umfeld der Familie ist von Drogenproblemen die Rede, mit denen der Verdächtige Nick Reiner zu kämpfen habe

 17.12.2025

Österreich

Neue Direktorin für das Jüdische Museum Hohenems

Historikerin Irene Aue-Ben-David übernimmt die Leitung und bringt internationale Erfahrung aus Jerusalem mit

von Nicole Dreyfus  16.12.2025

Basel

Mann wollte Juden während des ESC angreifen

Kurz vor dem »Eurovision Song Contest« in der Schweiz wurde ein 25-Jähriger wegen konkreter Gewaltdrohungen festgenommen und ausgewiesen

von Nicole Dreyfus  16.12.2025

Berlin

Umstrittene 88: Der schwierige Umgang mit rechten Codes

Im Berliner Fußball sorgt die Debatte um die Rückennummer 88 und dem Hitler-Bezug für Kontroversen. Warum das Verbot erneut scheiterte und wie der Fußball insgesamt mit rechtsextremen Codes umgeht

von David Langenbein, Gerald Fritsche, Jana Glose  16.12.2025

Wien

ESC 2026: ORF will israelfeindliche Proteste nicht ausblenden

Die Debatte und der Boykott einzelner Länder wegen der Teilnahme Israels haben den ESC 2026 bisher überschattet. Auch beim Event im Mai selbst drohen Proteste. Wie geht der ORF damit um?

 16.12.2025

Washington D.C.

Trump sorgt mit Angriffen auf ermordeten Rob Reiner für Empörung

Der jüdische Regisseur sei an einem »Trump-Verblendungssyndrom« gestorben, schreibt der Präsident. Dafür erntet er seltene Kritik aus den eigenen Reihen

 16.12.2025

Nachruf

Filmproduzent mit Werten

Respektvoll, geduldig, präzise: eine Würdigung des sechsfachen Oscar-Preisträgers Arthur Cohn

von Pierre Rothschild  15.12.2025

Meinung

Xavier Naidoos antisemitische Aussagen? Haken dran!

Der Mannheimer Sänger füllt wieder Konzertsäle. Seine Verschwörungserzählungen über Juden und holocaustrelativierenden Thesen scheinen kaum noch jemanden zu stören

von Ralf Fischer  15.12.2025