Essay

Das Gute im Menschen

Von 1942 bis 1944 schrieb sie ihr Tagebuch im Amsterdamer Versteck: Anne Frank (1929–1945) Foto: ullstein bild - ADN-Bildarchiv

Ein Zettel, quadratisch, die Handschrift: hektisches Gekritzel. So ein Quadrat aus einem Plastikbehältnis, die Tausende von Notizzetteln fassen und Tausende Schreibtische zieren, schnell mit einer grünen Pinnnadel an der Pinnwand befestigt.

Vielleicht war die Pinnnadel auch rot, ich weiß es heute nicht mehr, und rundherum hingen an der Wand Poster von Boybands, aus der »Bravo« gerissen. »Ich glaube an das Gute im Menschen«, hatte ich auf den Zettel notiert.

Abgeschrieben hatte ich den Satz, in der Hoffnung, er würde mich zu einem besseren Menschen machen. Ich war 13, 14 vielleicht, so alt wie sie. Ich nannte mein Tagebuch nach ihr. »Liebe Anne«, schrieb ich abends hinein anstelle von Kitty, vielleicht, weil ich dachte, auch das machte mich zu einem besseren Menschen.

symbol Die dunklen Augen, leicht verschmitzt, die dunklen Locken. Das Leben, das aus dem Bild strotzt, das zu einem Symbol wurde, dieses Leben, das ihr genommen wurde, und auch das ist ein Symbol: das ermordete Mädchen, das Mädchen ohne Leben. Das Mädchen, das zusammen mit sechs Millionen anderen Unschuldigen starb.

Mit 13 schrieb und liebte Anne genauso verzweifelt und unglücklich wie ich.

Das Mädchen, das das Ende alles Menschlichen repräsentiert, den Punkt, an dem Menschen blind, erzürnt, empathiebefreit Massenmord begehen, den Punkt, an dem die Worte fehlen, jegliches Gefühl, jeglicher Verstand und genau das erlischt: der Glaube an das Gute im Menschen.

Heute kann ich das mit analysierendem Abstand erkennen: Wegen solcher Sätze wurde Anne Frank zum Symbol, das sich auf Postkarten drucken lässt, das manchmal in seiner Kindlichkeit ohne direkte Anklage mahnt, was das Mahnen für diejenigen, die nicht dauernd ermahnt werden möchten, einfacher macht.

Tagebuch Weil sie ein Kind war, wurde sie zum Symbol, trotz ihrer bereits 13 Jahre immer noch ein Kind, trotz universeller Erkenntnisse, die sie in ihrem Tagebuch festhielt, trotz Menschenkenntnissen, die in beengten, beängstigenden, alltags- und freiheitsberaubenden Verhältnissen schneller wachsen als Brüste in der Pubertät, weil sie ein Kind war, das immer noch glaubte, dass die erste Verliebtheit für immer hält.

Weil sie wie wir war, die wir das alle mal geglaubt haben, weil sie ein Kind war, dessen Augen auf dem berühmten Foto meinen, das Leben schulde ihm noch viel. Weil ihr Tagebuch für uns alle erhalten blieb. Es gibt nicht viele verschriftlichte Quellen, würden Historiker sagen, die uns den kindlichen Blick auf diese Zeit ermöglichen.

Auf dem Schwarz-Weiß-Foto, das auf dem Tagebuch prangte, hatte ich eine Verbündete gefunden.

Weil Menschen Gesichter und Geschichten brauchen, um etwas zu erfassen zu beginnen, was sich nicht erfassen lässt: dieses Ende alles Menschlichen im Menschen.

Heute kann ich begreifen und erklären, was ich mit 13, ohne es zu hinterfragen, übernahm. Ich krallte mich an dieses Symbol: Sie war genauso jung und fühlte sich genauso groß wie ich, sie schrieb, sie liebte, genauso verzweifelt und unglücklich wie ich, sie wurde ebenso wenig von den Erwachsenen und der Welt verstanden. Sie sah aus wie ich, ich sah aus wie sie: Auch das ist, wenn man 13 ist, nicht zu unterschätzen.

Siebtklässlerin Umgeben von Mädchen mit langen blonden und – wichtig – glatten Haaren, die sich auf den Titelseiten der »Bravo« und in der Schule wiederfanden, hatte ich auf dem Schwarz-Weiß-Foto, das auf dem Tagebuch vorne prangte, eine Verbündete gefunden.

Mag sein, dass ich immer noch die einzige Jüdin an der Schule in der schwäbischen Provinz war, mag sein, dass ich weiterhin in den christlichen Religionsunterricht der anderen Klassen musste, um denen, die so anders aussahen als ich, Pessach zu erklären, mag sein, dass ich, die Siebtklässlerin, immer noch als Expertin für den Nahostkonflikt zu gelten hatte, als Yitzhak Rabin ermordet wurde, mag sein, dass meine Haare sich mit keinem noch so teuren Gerät glätten ließen.

1944 ist Anne Frank entdeckt und zunächst nach Auschwitz, später nach Bergen-Belsen deportiert worden.

Aber ich war nicht die Einzige, die so aussah, so war, sich dauernd Gedanken machte, etwas schrieb, die trotz allem hoffte. (Oh, diese Pathetik, diese Selbstbedeutsamkeit in jenem Alter). »Liebe Anne«, schrieb ich, »ich möchte so werden wie du«, und dann noch zwei Seiten über die unglücklichste Liebe aller Zeiten.

1944 ist Anne Frank entdeckt und zunächst nach Auschwitz, später nach Bergen-Belsen deportiert worden. Seit 20 Jahren habe ich diesen Zettel nicht mehr, »ich glaube an das Gute im Menschen«. Die Pinnwand landete bei einem der Umzüge im Müll.

Heute gibt es Greta Thunberg und Malala Yousafzai, und was sie sagen, müssen Jugendliche nicht auf Notizzettel abschreiben. Sie können es auf YouTube sehen und auf Twitter lesen, sie können ihnen folgen und meinen, sie seien beinahe Freunde.

Angst Heute gibt es Greta und Malala, aber es gibt heute auch Lübcke, Halle, Hanau. Es werden auf dieser Liste weitere Namen folgen, und für die jüdischen Jugendlichen gibt es häufig auch eine Angst, die sie nicht nur aus ihren Familien, von ihren Ur- und Großeltern erben, sondern täglich spüren: die Angst vor antisemitischen Sprüchen und antisemitisch motivierter Gewalt.

Es gibt Memes von Hakenkreuzen, Bilder von Hitler im Klassenchat, Schüler, die auf dem Weg zu einer KZ-Gedenkstätte judenfeindliche Lieder singen und häufig von diesen Vorfällen überfordertes Lehrpersonal.

Antisemitische und rassistische Beschimpfungen, Gewaltbereitschaft und Gewalt ziehen in den Alltag ein.

Es gibt eine rechtsextreme Partei, die im Bundestag und in den Landtagen sitzt, und Ausgrenzungsparolen, deren Mechanismen stark an den Geschichtsunterricht denken lassen. Es gibt in der Verunsicherung, die durch diese beängstigenden Entwicklungen verursacht wird, den Wunsch, an das Gute im Menschen zu glauben.

Anne Frank starb vor 75 Jahren, aber die Lebensnormalität, die sie beschreibt, kennen die Jugendlichen heute zu gut. Manche Dinge ändern sich bekanntermaßen nie – die Liebe mit 13 ist immer von Unglück, Verzweiflung und dem Glauben an das Ewigwährende begleitet. Beunruhigend ist eine andere, neue Parallelität, die es nicht gab, als ich noch 13 war: dass zuerst antisemitische und rassistische Beschimpfungen, dann Gewaltbereitschaft, dann die Gewalt in die Banalität des Alltags einziehen.

In diesen Zeiten können die Geschichte, das Gesicht, die Worte Anne Franks nicht genug mahnen, sie kann gar nicht genug Vorbild für Stärke und den Glauben an das Gute sein.

Die Autorin lebt als Schriftstellerin in München.

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