Literatur

»Das Exil beginnt mit dem Verlassen der Gebärmutter«

Literatur

»Das Exil beginnt mit dem Verlassen der Gebärmutter«

Über das beeindruckende Spätwerk Norman Maneas, der in den 80er-Jahren Rumänien verließ und heute in den USA lebt

von Alexander Kluy  23.07.2023 08:02 Uhr

Es ist höchste Zeit, dass die Schweden aufwachen. In erster Linie jene 21, die das Komitee bilden, das jedes Jahr im Herbst den Nobelpreis für Literatur vergibt. Denn Norman Manea sollte, nein: Er muss ihn in diesem Jahr erhalten.

Fast 30 Jahre lang waren Manea und Philip Roth miteinander befreundet. Und fast ebenso lange plädierte der Amerikaner, der 1933 zur Welt kam, mit Ende 20 für literarisches Aufsehen sorgte und sowohl kritischen als auch kommerziellen Erfolg hatte, dafür, dem um drei Jahre Jüngeren aus Burdujeni im Nordosten Rumäniens den Preis zuzusprechen.

Verlust Bei Norman Manea findet sich der Satz: »Im April 1945 war ich ein alter Mann, der gerade neun wurde.« An diesem Mittwoch (19. Juli) ist der Autor 87 Jahre alt geworden. Als Kind kam er ins KZ. Er verlor Vater und Mutter, hatte nur die jüngere Stiefschwester. Manea wuchs in Heimen auf, war als Jugendlicher entflammt für den Kommunismus – und bald schon enttäuscht. Der studierte Ingenieur zog sich in Bücher und Bibliotheken zurück.

Ab 1974 freier Autor in Bukarest, verließ er 1986 Rumänien. Er sprach ein wenig Deutsch, etwas Französisch, kein Wort Englisch und ließ sich nach kurzer Zwischenstation in West-Berlin in den Vereinigten Staaten nieder. Dort erhielt er 1989 am Bard College, einer namhaften Hochschule im US-Bundesstaat New York, erst eine Dozentur und war anschließend bis zum Jahr 2017 »Francis Flournoy Professor in European Studies and Culture«.

Das Exil ist Maneas Lebensthema, Leitmotiv und Leid-Motiv. Das Leben ist für ihn Exil. Das zeigt schon der Auftaktsatz von Der Schatten im Exil, seinem furiosen Alterswerk, das 2021 in Rumänien erschien und nun in Ernest Wichners feiner Übersetzung auf Deutsch vorliegt: »Das Exil beginnt mit dem Verlassen der Gebärmutter.« 2012 bekannte er in einem Interview: »Wenn man ins Exil geht, verliert man fast alles, aber was man in den Regalen in einer Bibliothek sieht, sind die Autoren, die man geliebt hat im alten Land.« Und meinte über die Erfahrung des Exils, dieses sei »nicht das Unbekannte ringsum, es ist auch das Unbekannte in uns selbst«.

geistesspiel Kunstvoll schreibt er in dieser »Roman-Collage«, anspruchsvoll, gebildet, fordernd. Und in nahezu jeder Hinsicht wagemutiger und lebensstoffreicher als halb so junge Autoren. Mit Exil, Brüchen, Abbrüchen, Schatten, Fremde jongliert Manea artistisch. Er ist ironisch, selbstironisch und hochliterarisch, sein Buch ein Geistesspiel von Anspielungen und parodistischen Verfremdungen, ein Spiel mit Literatur. Dann etwa, wenn die Hauptfigur seine Schwester »Agathe« nennt und die Konstellation aus Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften nachempfindet und nachschreibt.

Ergänzend kaleidoskopisch zitiert Manea auch aus wissenschaftlichen Aufsätzen über Exil und Fremde, über Liebe und den italienischen antifaschistischen Lyriker Eugenio Montale wie über Chamissos Helden Peter Schlemihl, ein Kristallisationspunkt der Identifikation und zugleich heillos wurzellose Spiegelfigur.

Wie so oft bei Manea ist es ein melancholisch gesättigtes, stilistisch feinsinniges, ein klug irisierendes Spiel mit ganz vielen autobiografischen Bezügen, die er (in den vergangenen 30 Jahren mit wichtigen Preisen gekürt, dem MacArthur Fellowship, dem National Jewish Book Award und zuletzt, im Jahr 2011, mit dem Nelly-Sachs-Preis) mal grotesk karikiert und verzerrt, dann wieder mit empathischer Einfühlsamkeit umreißt.

Favorit Eigentlich müsste sich das Nobelkommittén der Svenska Akademien zu Stockholm, das den Nobelpreis für Literatur vergibt, in diesem Jahr – nach den sacht irritierenden Ausreißern Abdulrazak Gurnah und der BDS-Sympathisantin Annie Ernaux – für Hochliteratur mit existenziellem Tiefgang entscheiden und den Preis Norman Manea zusprechen. An der Zeit wäre es; außerdem ist Rumänien bisher als Literatur-Land übergangen worden.

In seinem schönen Nachruf auf den Freund Philip Roth zitierte Norman Manea eine Passage aus dessen Roman Exit Ghost. »Wer von Ihren Zeitgenossen«, heißt es da, »wird nicht nur dem Tod entgehen, sondern auch mit Witz, Genauigkeit und Bescheidenheit über seine amüsierte Verblüffung angesichts der erreichten Unsterblichkeit schreiben?« Wer? Keine Frage! Norman Manea.

Norman Manea: »Der Schatten im Exil. Roman-Collage«. Übersetzt von Ernest Wichner, Carl Hanser, München 2023, 320 S., 28 €

Hollywood

Die »göttliche Miss M.«

Schauspielerin Bette Midler dreht mit 80 weiter auf

von Barbara Munker  28.11.2025

Literatur

»Wo es Worte gibt, ist Hoffnung«

Die israelische Schriftstellerin Ayelet Gundar-Goshen über arabische Handwerker, jüdische Mütter und ihr jüngstes Buch

von Ayala Goldmann  28.11.2025

Projektion

Rachsüchtig?

Aus welchen Quellen sich die Idee »jüdischer Vergeltung« speist. Eine literarische Analyse

von Sebastian Schirrmeister  28.11.2025

Kultur

André Heller fühlte sich jahrzehntelang fremd

Der Wiener André Heller ist bekannt für Projekte wie »Flic Flac«, »Begnadete Körper« und poetische Feuerwerke. Auch als Sänger feierte er Erfolge, trotzdem konnte er sich selbst lange nicht leiden

von Barbara Just  28.11.2025

Aufgegabelt

Hawaij-Gewürzmischung

Rezepte und Leckeres

 28.11.2025

Fernsehen

Abschied von »Alfons«

Orange Trainingsjacke, Püschelmikro und Deutsch mit französischem Akzent: Der Kabarettist Alfons hat am 16. Dezember seine letzte Sendung beim Saarländischen Rundfunk

 28.11.2025 Aktualisiert

Fernsehen

»Scrubs«-Neuauflage hat ersten Teaser

Die Krankenhaus-Comedy kommt in den Vereinigten Staaten Ende Februar zurück. Nun gibt es einen ersten kleinen Vorgeschmack

 28.11.2025

Eurovision Song Contest

Spanien bekräftigt seine Boykottdrohung für ESC

Der Chef des öffentlich-rechtlichen Senders RTVE gibt sich kompromisslos: José Pablo López wirft Israel einen »Genozid« in Gaza und Manipulationen beim Public Voting vor und droht erneut mit dem Austritt

 28.11.2025

Imanuels Interpreten (15)

Elvis Presley: Unser »King«

Fast ein halbes Jahrhundert nach Elvis’ Tod deutet viel darauf hin, dass er Jude war. Unabhängig von diesem Aspekt war er zugleich ein bewunderns- und bemitleidenswerter Künstler

von Imanuel Marcus  28.11.2025