Erinnerung

Christopher Hitchens’ blinder Fleck

In Sachen Judentum schlicht dämlich: Christopher Hitchens (1949–2011) Foto: getty

Dies vorneweg: Ich habe Christopher Hitchens, der vor einer Woche an Krebs gestorben ist, gemocht. Als dieser sehr britische Journalist nach dem 11. September 2001 den Mut fand, mit seinen Genossen zu brechen, als er den Sturz Saddam Husseins durch US- Truppen begrüßte, da habe ich aufgeatmet; und bei der Lektüre mancher Texte habe ich anerkennend durch die Zähne gepfiffen.

jüdische mutter Er war der Sohn eines Offiziers der Royal Navy und einer Jüdin (wie er allerdings erst nach ihrem Tod herausfand); er war ein alter 68er, der nach dem Vietnamkrieg nicht mit dem Denken aufgehört hatte. Er schrieb ein wunderschönes, ein beinahe schon literarisches Englisch. Außerdem war »the Hitch«, wenn man ihm nicht nur in seinen Texten, sondern auch persönlich begegnete, ein netter Mensch. Für mich und eine Freundin hat er in seiner Wohnung in Washington eine Flasche Wein entkorkt und ein Huhn in den Backofen geschoben, danach haben wir gemeinsam Sonette von Shakespeare und E. E. Cummings rezitiert. Ein großartiger Nachmittag, und als ich jetzt hörte, dass er tot ist, war ich einen Moment lang abgrundtief traurig. Sein Freund Ian McEwan hat beschrieben, wie es am Krankenbett von Hitchens zuging: Er las und schrieb bis zuletzt, umgeben von Büchern und Freunden – er war tapfer bis in den Tod.

Allerdings hat Hitchens auch die Tradition begründet, dass man Tote nicht deshalb, weil sie tot sind, von jeder Kritik verschonen soll. De mortuis nihil nisi verum. Darum nun also: Ich hatte mit Christopher Hitchens immer ein Problem, und das war die Art, wie er über Juden schrieb. Nicht nur über Israel, das er lange Zeit in klassisch trotzkistischer Tradition nur als rassistischen Staat wahrgenommen hat (nach 9/11 hat er ein bisschen umgedacht). Nein, ich meine seine Texte über das Judentum. Etwa Bah, Hanukkah, ein, pardon, wirklich dämlicher Artikel, in dem Antiochus IV. Epiphanes, ein blutrünstiger Tyrann, der sich als »der erschienene Gott« feiern ließ, wie ein Heros der Aufklärung zelebriert wird, während jene Juden, die sich ihm mit Waffengewalt zu widersetzen wagten, als fundamentalistische Finsterlinge hingestellt werden. Die Chanukkia, so Hitchens, sei ein Symbol des religiösen Obskurantismus, deshalb sei es ein Skandal, dass in Amerika in der Öffentlichkeit achtarmige Leuchter aufgestellt würden. Oder nehmen wir einen Satz in seinem gefeierten Bestseller Der Herr ist kein Hirte: Der Gott des Moses, schreibt Hitchens, habe nur »mitleidlose Lehren« verkündet und erwähne »menschliche Solidarität und Barmherzigkeit« mit keinem Wort. Manche Aussagen sind dermaßen falsch, dass nicht einmal ihr Gegenteil zutrifft – dies ist eine davon.

krude Ähnlich wie Voltaire, der bekanntlich ein zeternder Antisemit war, neigte auch Hitchens dazu, das Judentum als »die Wurzel des religiösen Übels« zu sehen. »Ohne die strengen, freudlosen Rabbiner und ihre 613 mürrischen Gebote hätten wir den ganzen Albtraum des Alten Testaments ebenso vermeiden können wie seine krude, brutale Verzerrung in das von Prophezeiungen getriebene Neue Testament und die Verwandlung des Juden- und Christentums in die verschiedenen rivalisierenden Fraktionen des Islam«, polterte er. Die einzigen Juden, die Gnade vor seinen Augen fanden, waren solche, die sich radikal von ihrem Judentum verabschiedet hatten, also Israel lautstark verabscheuten und zum Lichterfest keine Kerzen anzündeten.

Gut, ein Teil davon war Christopher Hitchens’ enormer Freude an der Polemik geschuldet. Alles halb so schlimm: Zusammen mit seiner jüdischen Frau und ihrer gemeinsamen Tochter feierte er jedes Jahr eine atheistische Version von Pessach, wie er mir verriet.

Und doch: Der Ton dieser Polemik war ekelhaft, er klang furchtbar vertraut – außerdem war seine grobschlächtige Gegenüberstellung nur albern. Hier Jerusalem, die Zentrale der Intoleranz, dort Hellas, der Ort der Aufklärung – unbeschadet der Tatsache, dass das griechische Nationalepos, die Ilias, nichts anderes ist als die langatmige Schilderung eines Genozids. Was Hitchens über das Judentum sagte, stammte nicht aus einer Kenntnis der Quellen – ich bezweifle, dass er die hebräische Bibel jemals gelesen hat, von den rabbinischen Schriften zu schweigen –, sondern aus Gerüchten. Hat Adorno den Antisemitismus nicht einmal als »das Gerücht über die Juden« bezeichnet?

Über all dies hätte ich gern einmal mit Christopher Hitchens gesprochen. Es wäre ein lauter, fröhlicher Streit geworden. Schade, dass er nicht mehr da ist.

Yael Van der Wouden

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