Israel

Charedim im Netz

Am Arbeitsplatz erlaubt: Laptop mit Netzanschluss Foto: imago images/Westend61

Unter dem Eindruck der Corona-Krise hat sich die Zahl der Internetnutzer in der ultraorthodoxen Gemeinschaft stark erhöht. Innerhalb eines Monats stieg die Quote auf 60 Prozent. Zudem wuchs im März gegenüber dem Vormonat die Zahl der Internetanschlüsse in ihren Haushalten um bis zu 600 Prozent.

Fast die Hälfte gibt an, sich nicht nur mithilfe ultraorthodoxer Medien zu informieren, sondern Nachrichten auch aus Mainstream-Quellen zu konsumieren. Vor Beginn der Corona-Krise hatte lediglich die Hälfte der ultraorthodoxen Gemeinschaft das Internet benutzt.

»Die Corona-Krise bedroht die Grundlagen des ultraorthodoxen Lebensstils«, sagt Gilad Malach vom Israel Democracy Institute (IDI), der dazu neulich eine Studie publiziert hat: »Die ultraorthodoxe Gemeinschaft verliert ihren Kampf gegen das Internet.« Die Auswirkungen der Pandemie werden einen bleibenden Effekt haben, ist er überzeugt.

KULTUR Der Stellenwert moderner Technologien wird von den Charedim differenziert beurteilt. In der Medizin bestehen zum Beispiel keine Berührungsängste. Andere Hightech-Entwicklungen werden indes strikt abgelehnt. Dazu gehören Fernsehen und Video; Radiosendungen sind hingegen nicht tabu. Verpönt ist das Internet aber, wenn es bloß der Unterhaltung und der Informationsbeschaffung dient.

In der Corona-Krise stieg die Zahl der Internet-Nutzer auf 60 Prozent.

Führende Rabbiner befürchten, dass das Internet als Quelle des Wissens den Gottesfürchtigen Zugang zu Verbotenem eröffne, zur säkularen Kultur, zur Wissenschaft oder zu pornografischen Seiten. Denn die Internetanschlüsse, argwöhnen sie, würden nach der Krise nicht gekappt. »Das könnte die Kultur der Charedim durcheinanderbringen«, fasst Malach die Angst der Rabbis zusammen. Eine Spezialerlaubnis fürs Internet erteilen sie nur, wenn das Internet am Arbeitsplatz nötig ist, nicht aber für den privaten Gebrauch zu Hause. Einige Jeschiwot verlangen von ihren Schülern sogar eine schriftliche Zusage, dass sie nie das Internet benutzen.

KRISE Dass das Internet vor dem Ausbruch der Corona-Krise nur von der Hälfte der Charedim benutzt wurde, rächte sich: Informationen über die Ausbreitung der Pandemie oder Anweisungen zur Verhinderung einer Ansteckung wurden erst mit einer erheblichen Verzögerung wahrgenommen. Damit verging viel kostbare Zeit. Doch die Gesundheitskrise hat bei vielen zu einem Umdenken geführt. Sahen sie vor der Krise im Zugriff auf Online-Angebote eine Gefahr, erachten sie es jetzt als Risiko, vom Internet abgeschnitten zu sein. Die neue Internet-Affinität könnte die Charedim zudem auf den Arbeitsmarkt drängen, meint Malach. In einer Umfrage gaben 42 Prozent an, sie würden nach der Krise einen Job suchen oder ihre Arbeitszeit erhöhen.

Der Einstieg der Charedim ins Geschäftsleben sei zwar zu begrüßen, meint der Ökonom Dan Ben-David vom Shoresh-Institut der Universität Tel Aviv, der das Universum der Ultraorthodoxen statistisch ausleuchtet. Er rechnet mit einer »exponentiellen Zunahme« des Anteils des charedischen Sektors. Heute machen Kinder aus ultraorthodoxen Familien 19 Prozent aller israelischen Kinder aus. Bis zum Jahr 2065 werde dieser Anteil auf 49 Prozent steigen, sagt Ben-David. Aber solange das Schulsystem kein säkulares Basiswissen vermittelt, hält er eine stärkere Integration der Frommen in die Moderne für schwierig.

KOSCHER Israels Wohlfahrtsminister Itzik Shmuli hat sich deshalb zum Ziel gesetzt, die Charedim in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Bis dahin ist es aber, Internet hin oder her, noch ein weiter Weg, weil sich in der charedischen Gemeinschaft viele Rabbis querstellen. Auf dem Arbeitstisch vieler ultraorthodoxer Hightech-Anwender liegt ein koscheres Smartphone, das auf der Rückseite, in Form einer Etikette, den Segen eines Rabbiners trägt. »Geschützt« steht auf dem Label, was bedeutet, dass soziale Netzwerke wie Facebook oder Twitter für dieses Gerät gesperrt sind. Nur der Arbeitscomputer braucht keinen Koscherstempel: Er unterliegt keiner Zensur.

TV-Tipp

Der andere Taxi Driver

Arte zeigt den Thriller »A Beautiful Day« der Regisseurin Lynne Ramsay mit Joaquin Phoenix in der Hauptrolle

von Kathrin Häger  09.02.2025

Analyse

Der nette Salafist?

Was von Syriens Interimspräsident Ahmad al-Sharaa zu erwarten ist – auch im Verhältnis zu Israel

von Tom Khaled Würdemann  09.02.2025

Kulturkolumne

Was bedeutet das Wort »Jude«?

Überlegungen zu Selbstmitleid und Dankbarkeit

von Ayala Goldmann  09.02.2025

Glosse

Der Rest der Welt

Als Harry und Sally so langweilig wie Mayonnaise waren

von Katrin Richter  09.02.2025

Zahl der Woche

160 Meter

Fun Facts und Wissenswertes

 09.02.2025

Aufgegabelt

Pancakes

Rezepte und Leckeres

 09.02.2025

New York

Trauer um Tony Roberts

Der Schauspieler starb am vergangenen Freitag an den Folgen einer Lungenkrebserkrankung

 08.02.2025

Bildung

Wissenschaftsfreiheit und Antisemitismus

Die Bundestagsresolution gegen Judenhass an Hochschulen und die Verantwortung der Universitäten. Ein Gastkommentar von Frederek Musall

von Frederek Musall  07.02.2025

Imanuels Interpreten (5)

Geddy Lee: Der Rock-Tenor

Der Sohn polnischer Holocaustüberlebender ist einer der prominentesten Musiker Kanadas. Bis 2015 war er Mitglied des Progressive Rock-Trios Rush

von Imanuel Marcus  07.02.2025