Archäologie

Briefe von der Seidenstraße

Erstmals sind jüdische Originaldokumente aus dem 11. Jahrhundert aus der Gegend des heutigen Afghanistan aufgetaucht. 29 einzelne Blätter hat Israels Nationalbibliothek von Händlern erwerben können. Anscheinend gibt es noch weitere Dokumente bei Händlern, doch die seien über die Welt verteilt – in Europa, USA, Mittelasien und vielleicht auch im Nahen Osten. »Die Händler verlangen Fantasiepreise«, sagt Haggai Ben-Schammai, Akademischer Leiter der israelischen Nationalbibliothek, die sich auf dem Campus der Hebräischen Universität Jerusalem befindet.

In einem ausführlichen Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen erzählt Ben-Schammai von einer fast unbekannten Kultur jüdischer Gemeinden und Händler entlang der Seidenstraße, die China mit Europa verband. Die Nationalbibliothek suche nach Spendern, um weitere Manuskripte zu erwerben. »Wir wollen verhindern, dass anonyme Sammler die historischen Dokumente erwerben und in Tresoren verschwinden lassen. Uns würde es genügen, die Originale in bester Qualität zu scannen und Kopien zu erhalten. Die Originale sollten für Forscher zugänglich bleiben.«

Versteck In einer Höhle in Afghanistan, »in der auch Füchse lebten«, so Ben-Schammai, wurden die Manuskripte im Jahr 2011 durch Zufall gefunden und anschließend an Händler verhökert. Ein französischer Archäologe habe die Gegend besucht. Ihm sei die Höhle gezeigt worden. »Ob es tatsächlich die richtige Höhle war, weiß niemand.« Ben-Schammai vertritt zwei Thesen zu dem Fund: Die Höhle könnte einst als Synagoge gedient haben oder aber als Versteck.

»Wegen der geografischen Nähe zu China war es für uns nicht überraschend, dass alle Manuskripte auf Papier geschrieben sind«, sagt Ben-Schammai. Denn schon um das Jahr 900 sei Papier dort verbreitet gewesen. Unter den 29 Blättern im Besitz der Nationalbibliothek befinden sich Geschäftskorrespondenz, persönliche Briefe sowie ein einzelnes Blatt aus einem Buch des Gelehrten Saadia ben Joseph Gaon. »Uns ist deshalb klar, dass ein ganzes Buch gefunden worden ist, dessen Blätter unter den Händlern verteilt worden sind.«

Der »Targum« (Übersetzung) des biblischen Propheten Jeremias von Saadia Gaon sei bekannt und konnte einwandfrei identifiziert werden. Doch der »Pirusch« (Kommentar) des Saadia ist nur in Bruchstücken erhalten geblieben, sodass die in Afghanistan gefundenen Blätter von großer Bedeutung für die Forschung sind. Von dem Saadia-Manuskript sei eine winzige Ecke ohne Text abgeschnitten und an das Weizmann-Institut in Rechowot geschickt worden, um das exakte Alter des Papiers mithilfe der C-14-Methode, auch als Radiokarbonmethode bekannt, zu ermitteln. Eine Antwort aus Rechowot steht noch aus.

Die gefundenen Dokumente wurden in mehreren Sprachen verfasst, auf Arabisch, Persisch, Jüdisch-Arabisch, Jüdisch-Persisch, Hebräisch und Aramäisch. Eine Fälschung schließt Ben-Schammai daher aus. »Um derartige Texte in so vielen unterschiedlichen Sprachen zu fälschen, bedarf es jahrelanger Studien. Das ist anders als bei der Fälschung antiker Ossuarien, wo vielleicht mal zwei, drei Namen im Nachhinein eingeritzt werden«, sagt der emeritierte Arabist in Anspielung auf Fälschungen archäologischer Funde aus der Zeit Jesu.

lebendige Gemeinden Die Geschäftsbriefe haben eine besondere Bedeutung, weil einige ein Datum gemäß der muslimischen Zeitrechnung enthalten. So könnten die entsprechenden Seiten auf die Periode zwischen Februar 1005 und dem Jahr 1028 genau datiert werden. »Die Geschäftsbriefe tragen das muslimische Datum, weil es um Kontakte zwischen Juden und ihrer Umwelt ging. Ähnlich wie heutzutage auch bei Juden die christliche Zeitrechnung verwendet wird.« Ben-Schammai betont, dass es sich um die ersten jemals entdeckten Dokumente einer judäo-persischen Kultur des frühen Mittelalters in einer der abgelegensten Gegenden der Welt handle.

Sehr wichtig sei auch die Erwähnung von Ortsnamen. Erstmals könne bewiesen werden, dass es »in der Gegend nicht nur tote Juden gab, nachdem man jüdische Friedhöfe gefunden hat, sondern auch lebendige Gemeinden«, so Ben-Schammai. Er erwähnt Gaznia, die Hauptstadt eines »mächtigen türkischen Reiches« im Grenzgebiet des heutigen Afghanistan mit Usbekistan und Tadschikistan. Ebenso komme in den Briefen Bamyan vor, wo es offenbar eine jüdische Gemeinde gab. Bamyan gelangte vor wenigen Jahren zu traurigem Weltruhm, weil dort die monumentalen, in den Fels gehauenen und von Taliban-Kämpfern gesprengten Buddha-Figuren gestanden hatten.

»Vor einigen Jahren habe ich den Kommentar eines Karäers zum biblischen Buch Daniel aus dem Jahr 900 veröffentlicht, in dem diese Buddha-Figuren als Inbegriff heidnischen Götzendienstes erwähnt werden«, berichtet Ben-Schammai. »Sowie diese Figuren zerstört sind, wird der Messias kommen«, habe es in dem Kommentar geheißen. Ben-Schammai sagt lachend: »Falls das stimmt, dann leben wir jetzt im messianischen Zeitalter – dank der Taliban.«

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