Literatur

Blutsonntag in Gunzenhausen

Thomas Medicus‘ ganz persönliche Vergangenheitsbewältigung Foto: rowohlt

Literatur

Blutsonntag in Gunzenhausen

Thomas Medicus begibt sich auf die Spuren eines Pogroms in seiner fränkischen Heimat 1934

von Welf Grombacher  23.07.2014 00:03 Uhr

Beim Kartoffelklößeformen hatte die Großmutter oft vor sich hingeredet. »›Hier haben‹, sagte sie dann, ›viele Juden gewohnt. Da, da und da und da auch‹«.

Als Kind dachte sich Thomas Medicus nichts dabei. Die Worte erschlossen sich ihm nicht. Als er Jahre später aber eine Erzählung von W.G. Sebald las, sprang ihn der Name seines Geburtsortes förmlich an. Von »Gunzenhausener Vorfällen« war da die Rede.

Am Palmsonntag des Jahres 1934 holte ein wütender Mob die jüdische Bevölkerung der mittelfränkischen Provinzstadt aus den Betten, trieb sie mit Fußtritten durch die Stadt und sperrte sie ins Gefängnis. Auslöser des Pogroms war der Besuch eines Christen in einer jüdischen Gastwirtschaft, der vom SA-Obersturmführer Kurt Bär gerügt wurde: »Dass ein Christ beim Juden sein Bier trinke, erhob er, als stünde er auf einer Kanzel, in den Rang einer Sünde«, weil Juden Todfeinde seien, die Jesus ans Kreuz genagelt hätten.

obduktion Als er 19 war, hat Thomas Medicus Gunzenhausen verlassen. Nichts hielt ihn dort. 40 Jahre später nun kehrt er zurück, um über das erste Pogrom nach der NS-Machtergreifung in Bayern, vielleicht sogar Deutschland, zu recherchieren. Entstanden ist dabei Heimat – weder Roman noch Sachbuch. »Eine Suche«, wie es im Untertitel heißt.

Schon in seinem Debüt In den Augen meines Großvaters 2004 setzte sich der 1953 geborene Medicus mit seiner Familie auseinander. War es damals sein Großvater mütterlicherseits und dessen Schuldigwerden im Zweiten Weltkrieg, so wendet er sich nun dem Vater seines Vaters zu. Der war Arzt und obduzierte dienstlich zwei Juden, die beim Gunzenhausener »Blutsonntag« ums Leben kamen. Der eine, Jakob Rosenfelder, wurde am Morgen danach mit einem Kälberstrick um den Hals tot aufgefunden. Der andere, Max Rosenau, soll sich aus Angst vor der fanatisierten Menge in seinem Haus verbarrikadiert und selbst mit fünf Messerstichen erstochen haben.

Aber handelte es sich wirklich um Suizide? Ist es nicht viel wahrscheinlicher, dass die Männer erschlagen wurden, der Obduktionsbericht des Großvaters falsch war? »Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren«, schreibt Medicus,» «dass die Gutachtertätigkeit von Vorsicht, Rücksichtnahme, möglicherweise sogar Angst geprägt war.»

j.d. salinger Kritiker hatten Thomas Medicus bei seinem ersten Buch vor zehn Jahren vorgeworfen, er wolle damit seine Familie von Schuld reinwaschen. Das kann man ihm bei Heimat mit Sicherheit nicht unterstellen. Hier leistet einer vorbildlich seine ganz persönliche Vergangenheitsbewältigung. «In G. gab es keine Unschuld, nur die Vortäuschung von Unschuld.

Die Nachkriegskinder gingen tagein, tagaus ahnungslos über einen doppelten Boden.» Doch Zeiten ändern sich. Mittlerweile, schreibt Medicus, arbeiten in Gunzenhausen Schulklassen die dunkle Geschichte auf, Künstler erinnern mit Aktionen daran, eine Gedenktafel mahnt an die fast 100 Juden aus Gunzenhausen, die in Vernichtungslagern ermordet wurden.
Bei seinen Recherchen stieß Medicus auch auf ein Stück Literaturgeschichte.

Der Schriftsteller J. D. Salinger kam 1945 als US-Besatzungssoldat nach Gunzenhausen, quittierte dort wegen einer Kriegsneurose seinen Dienst und jagte danach als Mitarbeiter des Nachrichtendienstes CIC Kriegsverbrecher. Hat Salinger sich auch mit dem Pogrom und dem Obduktionsbericht von Medicus’ Großvater beschäftigt? Auf jeden Fall hat er in Franken die Ärztin Sylvia Welter kennengelernt, die er 1945 heiratete und mit nach Amerika nahm. Schon im Frühjahr 1946 aber trennten sich die Eheleute. Es heißt, J. D. Salingers Vater Solomon habe die Schwiegertochter nicht akzeptiert, über die Salingers Schwester Doris später einmal gesagt haben soll: «She was very German».

Thomas Medicus: «Heimat. Eine Suche». Rowohlt, Berlin 2014, 288 S., 19,95 €

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