München/Berlin

Berührende Momente

Der Abend hat etwas Beschwörendes. Dieter Graumann, der nach zwei Jahren im Amt als Präsident des Zentralrats der Juden kein bisschen visionsmüde geworden ist und sich fest vorgenommen hat, ein neues Bild vom deutschen Judentum zu schaffen, will, dass die Menschen in Deutschland, die Juden Deutschlands verstehen, was er meint. Sie sollen ihn kennenlernen, sie sollen erfahren, wie er zu dem wurde, der er heute ist.

Nachgeboren Vorbelastet?, fragt der Titel. Graumanns Antwort lautet: »Ja, aber«. Am Dienstagabend stellte er sein Buch über Die Zukunft des Judentums in Deutschland im Foyer des Jüdischen Museums am Münchner Jakobsplatz vor. Die Veranstaltung war gut besucht, und Graumann, begleitet von seiner Frau Simone, zeigte sich in bester Laune.

Freie Rede »Vorlesen, das ist für mich etwas Neues«, kündigte er an, und Rachel Salamander von der Literaturhandlung, zuständig für die einleitenden Worte und ein Kurzinterview zwischendurch mit – Visionen hin, Visionen her – genau den richtigen Fragen, erzählte ein bisschen von »vor Jahren«, und dass sie ihn schon lange kenne und ihr schon früh seine Gabe für die freie Rede aufgefallen sei. »Dieses Talent hat er weiterentwickelt und perfektioniert, und man spürt, dass er sich dessen bewusst ist« – Kichern im Publikum, Graumann zieht belustigt die Augenbrauen hoch –, »und vorlesen kann er auch noch«.

Es wird ein heiterer Abend, obwohl die Tragödie der ersten Generation, die Schoa – »die Erinnerung wird schwächer, das Gedenken stärker« – jedes Thema, jedes angelesene Kapitel durchwirkt. In Graumanns Buch steckt das Programm, mit dem er als Präsident angetreten ist, steckt sein Verlangen, Judentum auch als etwas Lichtes, Positives darzustellen. (»Gestattet das die Realität?«, fragt Rachel Salamander.)

Graumann will der Versuchung widerstehen, als Sprachrohr der Juden Deutschlands »Kritiker vom Dienst« zu sein, die Journalisten mit dem zu bedienen, was sie von den Juden hören wollen. »Auf der anderen Seite müssen wir …«, also doch, es wird den Juden nichts anderes übrig bleiben, als den Anfängen, die es manchmal längst nicht mehr sind, zu wehren und auf Missstände hinzuweisen.

Anekdoten Wer Dieter Graumann über die Jahre als öffentliche Person wahrgenommen, wer ihn bereits öfters gehört oder Artikel von ihm gelesen hat, der kennt vieles aus dem Buch schon. Doch es gibt »biografische Notizen«, die sind neu, Anekdoten und weniger Lustiges aus der Kindheit, Jugend, dem Erwachsenenleben Graumanns, Momente, die rühren und berühren. Dazu gehört die Geschichte von dem jüdischen Jungen in Frankfurt, der seinen jüdischen Namen verloren hat.

»Und heute bin ich wahrscheinlich der einzige jüdische Dieter in ganz Deutschland.« Beinahe schmerzhaft und beinahe nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, ist es, wenn Graumann schildert, wie seine Eltern die Nachricht seiner Wahl zum Präsidenten aufgenommen haben. Bis heute hat er mit Konflikten der zweiten Generation schwer zu kämpfen und zeigt sich als Mensch hinter dem Amt. Joachim Gauck hat ihn sehr beeindruckt, Ignatz Bubis hat ihn geprägt. »Wer Einblick ins Judentum haben will, muss das Buch lesen«, sagt Rachel Salamander und: »Wir unterstützen dich alle«.

Am Mittwochabend dann die Präsentation im Jüdischen Museum Berlin. Anderer Ort, etwa gleiches Programm: Rachel Salamander präsentiert das Buch (»Standardwerk zur Gefühls- und Gedankenwelt des Judentums«) und den Autor (»Das ist der richtige Zentralratspräsident«). Dann liest Graumann auszugsweise Passagen aus seinem Buch (»Vorlesen kann ich nicht. Das Ganze hat für mich experimentellen Charakter.«)

Dazwischen immer wieder Fragen an ihn. Es geht unter anderem um seinen politischen Weg, den Glauben, die neue Ausrichtung des Zentralrats, das Erinnern an die Schoa. Und es geht um die russischsprachigen Zuwanderer. Die hätten einen Perspektivwechsel in die Gemeinden gebracht, auch in Hinblick auf die Wahrnehmung der Vergangenheit. »Die Zuwanderer haben eine andere Geschichte, die auch wir erst lernen mussten«, sagt Graumann. Der Umgang mit dem 8./9. Mai sei dafür beispielhaft, denn viele Juden haben in der sowjetischen Armee gegen den Nationalsozialismus gekämpft. Viele von ihnen fühlten sich nicht als Opfer des Nationalsozialismus, sondern als Sieger. »Das eine wird nicht durch das andere ersetzt, sondern ergänzt.«

Frankfurt/Main Dann will Rachel Salamander wissen, was das Besondere an Frankfurt sei. Warum so viele jüdische Persönlichkeiten der Mainmetropole das Judentum der Bundesrepublik prägen und geprägt haben, und warum die Gemeinde dort so harmoniere, im Gegensatz zu den Gemeinden manch anderer Städte. Dabei erinnert Graumann erst einmal daran, dass Frankfurt in den 50er-Jahren bereits politischer Mittelpunkt und heimliche Bundeshauptstadt war. Zudem sei es insbesondere seinem politischen Mentor Ignatz Bubis zu verdanken, dass Frankfurt heute eine »Vorzeigegemeinde« sei, in der sich zwei orthodoxe und ein egalitärer Minjan unter einem Synagogendach treffen. Dies setze die Architektur fort, die Bubis geschaffen habe.

In Graumanns Heimatgemeinde findet dann auch die nächste Buchvorstellung statt: am Mittwoch, den 31. Oktober, 19.30 Uhr, im Ignatz-Bubis-Gemeindezentrum, Savignystraße 66. (mit ja)

Dieter Graumann: Nachgeboren Vorbelastet? Die Zukunft des Judentums in Deutschland. Kösel-Verlag, München 2012, 19,99 €

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