Kulturkolumne

Bekenntnisse eines Printosauriers

Ich bin ein Printosaurier – und das ist auch gut so! Sie werden vielleicht lachen, aber ich pflege eine geradezu romantisch-amouröse Beziehung zur gedruckten Zeitung. Seit mich mein Vater im Minsk der frühen 90er-Jahre jeden Morgen zum Kiosk schickte, um mehrere Blätter verschiedenster Couleur zu besorgen, komme ich nicht von der Zeitung los.

Im damals gerade unabhängig gewordenen Belarus waren Zeitungen ein aufregendes Experimentierfeld für Ideen und Konzepte. Mein Vater las belarussische ebenso wie russische Zeitungen, nationalkonservative ebenso wie wirtschaftsliberale Blätter. Endlich konnte sich jeder und jede eigenständig der Wahrheit annähern – während in der So­wjetunion eine Parteizeitung die Wahrheit (»Prawda«) für sich beansprucht hatte. Die in Kindheitstagen eingeimpfte Liebe zur Zeitung trug mich zu meinem jetzigen Beruf.

Und auch wenn sich in der Zwischenzeit einige Routinen und Kompromisse eingeschlichen haben: Bis heute empfinde ich eine tiefe Leidenschaft für den Journalismus. Umso mehr berührte mich unlängst ein Besuch im Düsseldorfer »Lilli-Marx-Raum«: Der von einer Bürgerinitiative eingerichtete Ausstellungsraum im Bürgerhaus Benrath ist der Journalistin Lilli Marx (1921–2004) gewidmet, der Ehefrau des Gründungsverlegers dieser Zeitung, Karl Marx.

Die erste Ausgabe nach der Schoa

Dort stößt man etwa auf die faksimilierte Erstausgabe des »Jüdischen Gemeindeblatts für die Nord-Rheinprovinz und Westfalen« vom 15. April 1946. »Dieses Gemeindeblatt (…) ist ein erster Schritt in die Freiheit, ein weiterer Schritt für den Wiederaufbau der jüdischen Gemeinden in Deutschland«, schreibt der damalige Verbandsvorsitzende Philipp Auerbach im Geleitwort. »Wir haben für unsere Zukunft vollstes Vertrauen«, fährt er fort – weniger als ein Jahr nach dem Ende der Schoa, wohlgemerkt.

Noch im selben Jahr übernahmen Karl und Lilli Marx die Leitung des in Düsseldorf publizierten Gemeindeblatts. 1949 wurde daraus die »Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland«, später zog die Redaktion nach Bonn. 2002 benannte sich die inzwischen in Berlin ansässige Zeitung in »Jüdische Allgemeine« um. Im Lilli-Marx-Raum lassen sich die ersten Jahrzehnte auf dem Weg zur heutigen »JA« ausführlich nachvollziehen.

Lesen Sie auch

Vor allem ist dort die frappierende Energie der Düsseldorfer Nachkriegsjahre zu spüren. Das geradezu utopische Zukunftsvertrauen der Gründergeneration erinnert mich an den Aufbruch, den ich als Kind im Minsk der 90er-Jahre erleben durfte.

Doch das belarussische Experimentierfeld endete relativ bald nach dem Machtantritt des bis heute diktatorisch regierenden Präsidenten Alexander Lukaschenka. In Deutschland steht die Presselandschaft auch ohne staatliche Willkür und Zensur unter Druck – der rasende digitale Wandel sorgt seit Jahren für pausenlose Disruption.

Zeitung ist heute eben auch Onlineausgabe, E-Paper, App, Podcast und Instagram-Story. Welches Medium aber stört nicht durch penetrante Pushnachrichten, ablenkende WhatsApps, sinkenden Akku­stand und ermüdendes Bildschirmlicht? Als bekennender Printosaurier hätte ich da einen Tipp.

Hommage

Ein Leben als Zeugnis

Im Mai starb die Schoa-Überlebende Margot Friedländer. Nun kommt ein Buch über sie heraus

 28.09.2025

TV-Tipp

Im Rollstuhl über Bord geworfen: Arte-Doku über die Entführung der Achille Lauro

Arte-Doku erinnert an die palästinensische Massengeiselnahme auf dem italienischen Kreuzfahrtschiff Achille Lauro. Sie ereignete sich am 7. Oktober 1985 - genau 38 Jahre vor dem Hamas-Massaker samt Massengeiselnahme

von Manfred Riepe  27.09.2025

Nachruf

Adieu, Jahrhundertmensch!

Zum Tod der einzigartigen österreichischen Reporterlegende Georg Stefan Troller

von Sophie Albers Ben Chamo  27.09.2025

Kommentar

Der ESC kann auf israelfeindliche Staaten verzichten

Eine Reihe von Ländern will den Eurovision Song Contest 2026 boykottieren, sollte Israel daran teilnehmen. Gut möglich also, dass Spanien, die Niederlande und Slowenien nächstes Jahr in Wien fehlen werden. Na und?

von Jan Feddersen  26.09.2025

Meinung

Israel wird zum Juden unter den Fußballern

Der europäische Fußballverband Uefa steht kurz davor, das israelische Team auszuschließen. Dahinter steht eine antisemitisch grundierte Kampagne gegen den jüdischen Staat

von Martin Krauss  26.09.2025

Auszeichnung

Leipziger Stiftung vergibt wieder Mendelssohn-Preis

Die Pianistin Elena Bashkirova und der Gründungsdirektor des Jüdischen Museums in Berlin, Michael Blumenthal, werden geehrt

 25.09.2025

Meinung

Wir müssen das Jüdische in der Kritischen Theorie neu entdecken

Das Judentum hatte einen spürbaren Einfluss auf das Denken von Philosophen wie Max Horkheimer, Walter Benjamin oder Theodor W. Adorno. Dieses Erbe wird heute selten berücksichtigt

von Joel Ben-Joseph  25.09.2025

Sachbuch

Erzähl mir von deinen Lieblingsorten

Die deutsch-israelische Autorin Katharina Höftmann Ciobotaru und der Iraner Sohrab Shahname fanden nach dem 7. Oktober 2023 Vertrauen zueinander. Ein Auszug aus ihrer ungewöhnlichen Brieffreundschaft

von Katharina Höftmann Ciobotaru, Sohrab Shahname  24.09.2025

Musik

»Parabola and Circula«: Übermächtige Musik

Beim Berliner Musikfest wurde die lange verschollene Oper des jüdisch-amerikanischen Komponisten Marc Blitzstein uraufgeführt

von Stephen Tree  22.09.2025