Autobiografie

Baseball spielen statt Schiwa sitzen

»Katalog der Sinnesdaten«: Paul Auster blickt auf sein Leben zurück. Foto: Rowohlt

Autobiografie

Baseball spielen statt Schiwa sitzen

In »Winterjournal« thematisiert der amerikanische Schriftsteller Paul Auster auch sein Judentum

von Welf Grombacher  02.12.2013 19:08 Uhr

Externer Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel anreichert. Wir benötigen Ihre Zustimmung, bevor Sie Inhalte von Bottalk ansehen und mit diesen interagieren können.

Mit dem Betätigen der Schaltfläche erklären Sie sich damit einverstanden, dass Ihnen Inhalte aus Bottalk angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittanbieter übermittelt werden. Dazu ist ggf. die Speicherung von Cookies auf Ihrem Gerät nötig. Mehr Informationen finden Sie hier.

Paul Auster ist 24 und gerade frisch angekommen in Paris. In der Rue Jacques Mawas hat er eine Wohnung gefunden. Ein blinder Klavierstimmer erzählt, er habe früher selbst in dem Arrondissement gewohnt. »›Damals hat man hier leicht eine Wohnung finden können.‹ ›Warum?‹ ›Weil hier‹, sagt er, ›früher viele Israeliten gelebt haben; aber als der Krieg anfing, sind sie fortgegangen.‹«

Auster versteht zunächst nicht. Vielleicht hat ihn das Wort »Israelit« etwas aus dem Konzept gebracht, mutmaßt er später. Wohin sie denn »fortgegangen« seien, fragt er und erhält als Antwort: »Ich habe keine Ahnung … aber die meisten sind nicht zurückgekommen.«

Nun ist Paul Auster kein explizit jüdischer Autor. Auf jeden Fall nimmt man ihn nicht als solchen wahr. In Winterjournal aber, seinem neuen Buch, einer Art literarischer Autobiografie, wird der Amerikaner immer wieder mit seiner Herkunft konfrontiert. Jetzt, mit 64 Jahren, da er in den Winter seines Lebens eingetreten ist, glaubt Auster, die Zeit sei gekommen, sich einmal seiner eigenen Person zuzuwenden. In einem Dialog mit sich selbst – er nennt es einen »Katalog der Sinnesdaten« – wirft Auster Streiflichter auf sein Leben.

pubertät Mit fünf entdeckt er in der Badewanne zum ersten Mal seinen Penis. Er ist entzückt, hat das beschnittene Glied doch verblüffende Ähnlichkeit mit einem Feuerwehrhelm. Wo er doch Feuerwehrmann werden will. »Und wie gut passt es da, am eigenen Leib mit einem Minifeuerwehrhelm ausgestattet zu sein … der obendrein nicht nur aussieht, sondern auch arbeitet wie ein Schlauch.« Später in der Pubertät leidet er Höllenqualen.

Von »Jahren der phallischen Besessenheit« spricht Paul Auster, in denen er allmonatlich den »nordamerikanischen Mastur-bationsrekord« gebrochen habe. Ein »Onanist, nicht aus freier Entscheidung, sondern aufgrund der Umstände«, weil die Mädchen der bürgerlichen Vorstadt, in der er aufwuchs, Anfang der 60er sich nicht »an Jungen wegwerfen« durften. Da hilft auch ein Besuch im Bordell nicht weiter.

Erst die Überfahrt von New York nach Le Havre bringt Erleichterung. Sind doch noch 300 andere 18- bis 21-Jährige an Bord, unter denen schnell eine »Atmosphäre ungenierter Sinnlichkeit« herrscht. Jeder treibt es mit jedem, und das Schiff wird zu einem »schwimmenden Palast der Unzucht«.

Als Nachfahre osteuropäischer Juden, die vor zwei Generationen nach Amerika einwanderten, fühlt Auster sich als Heimatloser. Mit seiner »bräunlichen Haut« sei er ethnisch nicht einzuordnen, schreibt er, und werde von Fremden immer wieder für einen Italiener, Griechen, Libanesen gehalten.

Das, ebenso wie die Scheidung der Eltern, ist ein Grund, warum Auster nach seinem Verständnis ein »beschädigter, ein verwundeter Mensch« ist, dem das Schreiben zur »Selbstmedikation« geworden ist: »Warum sonst hättest du dein ganzes Erwachsenenleben damit verbringen sollen, Worte auf Papier zu bluten?«

verbundenheit Führt er selbst zwar kein religiös jüdisches Leben, so fühlt Auster sich doch verbunden mit seiner Herkunft. Das einzige Mal, dass er einem anderen Prügel androht, ist, als ein Mitreisender auf dem Schiff nicht aufhören will, antisemitische Witze zu erzählen.

Und als in Paris Madame Rubinstein, die unter ihm wohnt, sich über das laute Klavierspiel beschwert und tobt, zieht er stolz seine »Trumpfkarte« und entgegnet, wie furchtbar traurig es doch sei, wenn zwei Juden so miteinander streiten: »Denken Sie daran, Madame Rubinstein, wie viel Leid und Tod und welche Schrecken unser Volk erdulden musste, und wir schreien uns hier an wegen nichts; wir sollten uns schämen.« Madame verstummt und grüßt ihn fortan auf der Straße sehr freundlich.

Nach dem Tod seiner Großmutter sitzen Fremde mit dem Vater Schiwa, murmeln unverständlich hebräische Worte, bis der Rabbiner dem Zehnjährigen die Hand auf die Schulter legt und ihm freundlich sagt, er könne ruhig zum Little-League-Match gehen und Baseball spielen.

Es gibt viele amüsante, aber auch tragische Episoden in diesem Buch, das nebenbei so manch neuen Zugang zum Werk des Schriftstellers liefert. Von der Geburt 1947 in Newark bis 2011 spannt sich der Bogen. Bis schließlich alles mit einem »Chor der Toten« endet.

Mit seinem deutschen Freund Michael Naumann besucht Auster die KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen. »So viel Tod, konzentriert auf so engem Raum.« Vor einem Massengrab mit der Inschrift »Hier ruhen 50.000 russische Soldaten« hört er sie dann: »Die Erde schrie. Fünf oder zehn Sekunden lang konntest du sie hören, und dann verstummte sie.«

TV-Tipp

»Wonder Woman«: Von der Welt der griechischen Sagen in den Ersten Weltkrieg

Das Entree der Comic-Heroine Wonder Woman in die Welt des modernen Blockbuster-Kinos ist nach wie vor eine der besten unter den (Neu-)Verfilmungen von DC-Comics

von Jan Lehr  21.08.2025

Rezension

»Chabos« fährt mit Vollgas in die Nullerjahre

Die Streaming-Serie bringt Zuschauer zurück in die 2000er. Mitten in eine verhängnisvolle Nacht mit einem illegalen Film-Download

 21.08.2025

New York

Monica Lewinsky stellt mit Amanda Knox Serie vor

Worum geht es in »The Twisted Tale of Amanda Knox«?

von Lukas Dubro  21.08.2025

Kulturkolumne

Verhandeln auf Tinder

Dating in Zeiten der Wassermelone

von Laura Cazés  21.08.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Katrin Richter  21.08.2025

Imanuels Interpreten (12)

Paula Abdul: Die Tänzerin

Die auch als Sängerin, Schauspielerin und Geschäftsfrau bekannte kalifornische Jüdin führt ein abwechslungsreiches Leben. Dieses schließt Verbindungen zu Isaac Herzog, Sacha Baron Cohen und einem Cartoon-Kater mit ein

von Imanuel Marcus  20.08.2025

Zahl der Woche

94 Prozent

Fun Facts und Wissenswertes

 20.08.2025

Potsdam

Kunstprojekt zu NS-Geschichte

Die beteiligten Künstlerinnen zeigen in Installationen, Malerei und Videoarbeiten, wie weit transgenerationelle Traumata bis heute wirken

 20.08.2025

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 21. August bis zum 27. August

 20.08.2025