Tanz

Ballett nach Kanye West

Vier Männer und sechs Frauen finden auf der Bühne immer wieder in unterschiedlichen Konstellationen zusammen. Foto: Julia Gat

Reflexe und Reflexionen» – so lautet der mehrdeutige Titel eines «Gesprächsraums» über die «Zukunft der Streitkultur», der dieser Tage im Haus der Festspiele Berlin stattfand. Aufgeführt wurde in diesem Rahmen ein Tanzstück des israelischen Choreografen Emanuel Gat, der nach großen internationalen Erfolgen 2004 in Frankreich unter dem Namen «Emanuel Gat Dane» seine eigene Ballett-Kompanie gründete, die seit 2021 in Marseille beheimatet ist und nun in Berlin auftritt.

Freedom Sonata heißt es vielversprechend. Die musikalische Begleitung basiert, wie in der Eröffnungsansprache des Intendanten am Vorabend ausdrücklich erwähnt, auf dem 2016 erschienenen Album The Life of Pablo von Kanye West, dem erfolgreichen Rapper und Modeschöpfer, der aber auch als bekennender Hitler-Bewunderer, provokativer Antisemit und Trump-Unterstützer in Erscheinung getreten ist.

Der Choreograf rechtfertigt den Rückgriff auf die Musik von Kanye West im anschließenden Podiumsgespräch unter dem Motto «Wer darf eine Bühne bekommen? Über Kunstfreiheit und Deplatforming» folgendermaßen: Er betrachte ein Kunstprodukt nicht als persönliches Eigentum seines Erschaffers. Aufgrund des Talents, das einer Künstlerin oder einem Künstler zugefallen sei, ist es seiner Auffassung zufolge in den Besitz der Allgemeinheit übergegangen.

Der Choreograf betrachtet Kunstprodukte nicht als persönliches Eigentum ihrer Erschaffer.

Deshalb habe Gat dieses Rap-Album ebenso bedenkenlos für seine Arbeit genutzt wie früher bereits Wagner-Kompositionen. Ferner wären die dummen Sprüche eines Kanye West im Vergleich zu Wagners ausgefeilter antisemitischer Ideologie, wie er sie in seiner Schrift Das Judentum in der Musik ausführt, noch vergleichsweise harmlos.

Musik-Schnipsel von Beethoven

Um es gleich zu sagen: Die Musik ist, ungeachtet der unappetitlichen Persönlichkeit ihres Schöpfers, tatsächlich stark und hält, von einigen Beethoven-Schnipseln unterbrochen, den mit anderthalb Stunden vergleichsweise langen Ballettabend zusammen. Das Ganze basiert auf dem für Gats Arbeiten typischen Gegensatz von «Strenge» und «Freiheit», der auf der mehrsätzigen Sonatenform und dem konsequenten Übergang von Weiß/Schwarz auf Schwarz/Weiß beruht, wobei die Tänzerinnen und Tänzer innerhalb der vom Choreografen vorgegebenen Regeln frei interagieren dürfen.

Zu sehen ist eine zunächst schwarze, durch scharfe Lichtvierecke und Kunstnebel ständig neu gestaltete Bühne, auf der die anfangs weiß gekleideten Tänzer – vier Männer und sechs Frauen – immer wieder unterschiedlich zusammenfinden und sich oft spontan für bestimmte Bewegungsabläufe oder Tanzschritte zu entscheiden scheinen. Im Lauf des Abends wird der schwarze Bühnenboden mit weißen Bühnenteppichstreifen belegt, ein komplexer Prozess mit Klebebandeinsatz und Stoff-umwickelten Wischmopps, für den sich die Protagonisten mit Zirkus-ähnlichen spitzen Schreien verständigen.

Während der Bühnenboden immer weißer wird, wechseln die Kostüme ins Schwarze. In deren Gestaltung, wie zuvor in der weißen Kleidung, wirkt vieles bewusst improvisiert und selbst entworfen. Der gewollte Verzicht auf die Strenge des Kostüms sowie die Absolutheit der Choreografie machten das Ganze zu einem sehr speziellen, sehr persönlichen wie auch sehenswerten Abend, der vom Berliner Publikum mit begeistertem Applaus bedacht wurde – sieht man von dem in Kauf zu nehmenden Skandalon des Schöpfers der musikalischen Begleitung ab.

Video-Installation von Miloš Trakilovic, Giorgi Gago Gagoshidze und Hito Steyerl

Im oberen Stock des Festspielhauses wird im Rahmen der «Reflexe und Reflexionen», kuratiert von der Politologin Saba-Nur Cheema und dem Pädagogen Meron Mendel, auch eine Video-Installation präsentiert, und zwar unter dem Titel «Mission Accomplished: Belanciege». Konzipiert wurde sie von Miloš Trakilovic, Giorgi Gago Gagoshidze sowie Hito Steyerl, jener Videokünstlerin, die ihre Arbeit im Juli 2022 von der documenta fifteen aufgrund deren antisemitischer Inhalte zurückzog.

Auf drei Garderobenspiegel-ähnlichen, mannshohen Bildschirmen erscheinen die drei Künstler, die in unterschiedlich akzentuiertem Englisch die Geschichte eines bosnischen Modedesigners erzählen und illustrieren, der als Zehnjähriger die Belagerung von Sarajewo überlebte und es im späteren Leben zum Chefdesigner der Kultmarke Balenciaga brachte.

Die schnell gesprochenen und nicht immer gleich verständlich vorgetragenen Monologe berichten, durchaus unterhaltsam und witzig, vom Zusammenhang zwischen einem ikonischen Bild aus der Zeit der Belagerung der bosnischen Stadt, das eine junge Frau zeigt, die mit ihrer neuen Kurzhaarfrisur trotzig und aufrecht durch eine von ständigem Scharfschützenfeuer belegte Stelle schreitet, zu einem Modeereignis aus 2016, als ihr Kleid, leicht abgewandelt und in ähnlicher Positur auf einem Balenciaga-Laufsteg präsentiert wird.

Ikea-Tasche, Sneaker und Balenciaga-Stiefel

Gezeigt wird ebenfalls die berühmte «Ikea-Tasche» aus feinstem, blau gefärbtem Leder – Ladenpreis 2145 Dollar – im Vergleich zur originalen Ikea-Tasche aus verstärktem Kunststoffgewebe zum Laden­preis von 0,99 Dollar. Auch der unselige Kanye West taucht erneut auf, diesmal mit Sneakern für 11.000 Dollar, wie auch seine Ex-Lebensgefährtin Kim Kardashian, die mit ihren hüfthohen, teuren Balenciaga-Stiefeln eine Ikone der serbischen «Turbo-Pop»-Bewegung derart genau imitiert, dass in der Presse heftig darüber diskutiert wurde, wer zuerst da war (Spoiler: Es war die «Turbo-Pop»-Dame).

Die Installation endet, eher tröstlich, mit der Kopie eines «Balenciaga-Sneakers», normaler Ladenpreis 800 Dollar, der hier «Belanciege-Sneaker» heißt und nur schlanke 25,90 Dollar kostet. So erschließt sich auch der Name des Projekts, der zugleich die wahren Werte hinter dem künstlich aufgeblähten Preis des Modeartikels erkennbar macht. Eine fordernde, aber die Mühe des Zuschauens lohnende Video-Installation.

Fazit: Meron Mendel und Saba-Nur Cheema tanzen auf vielen Bühnen. Diesmal scheint es gelungen.

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