Sprachgeschichte(n)

Außenseiter in der Sesamstraße

»Peter Schlemihl« von Adelbert von Chamisso Foto: dpa

Sprachgeschichte(n)

Außenseiter in der Sesamstraße

Wie der Schlemihl vom Pechvogel und Nichtsnutz zum Schlitzohr wurde

von Christoph Gutknecht  05.09.2016 18:24 Uhr

Als man dem bayerischen Ministerpräsidenten vorhielt, er habe seine Einstellung zur Gentechnik gegenüber der von ihm als Landwirtschaftsminister vertretenen Position geändert, reagierte er – wie »Die Welt« schrieb – »mit dem bekannten Schlemihl-Lächeln«. Gemeint war die im Duden als »landschaftlich-umgangssprachlich« charakterisierte Zweitbedeutung von »Schlemihl«, nämlich »Schlitzohr«.

Auch in der deutschen Fassung der Sesamstraße gab man dem im amerikanischen Original »Lefty« genannten Händler, der seine Partner über den Tisch ziehen will, wegen seiner Schlitzohrigkeit den Namen Schlemihl.

Pechvogel Die Hauptbedeutung der orthografisch variierenden Bezeichnung ist jedoch eine andere. Dazu schrieb David Bärmann Schiff (alias Isaak Bernays), ein Stiefvetter Heinrich Heines, im Roman Schief-Levinche mit seiner Kalle oder die polnische Wirtschaft (1848): »Das Wort Schlemiehl lässt sich im Deutschen am besten durch Pechvogel wiedergeben.«

Er verdeutlichte es an der Figur des Löbel Kurzweil, »der jedem nach dem Munde sprach, den Mantel nach allen Winden hing und zu allem sich brauchen ließ und zu gebrauchen war. Allein er war und blieb ein Schlemiehl. Obschon er ein gewaltig frommer Mensch war, wollte man ihn weder in der Woche zum Imbiss noch am Sabbat bei Tische zulassen, denn er hatte stets einen Löwenhunger und räumte auf wie ein Vielfraß.«

Dieser Bedeutung folgen alle modernen Lexika. Schon für Weigands Deutsches Wörterbuch (1857) ist der Schlemihl ein »gleichgültig-lässiger, viel ertragender Mensch, der viel Missgeschick hat«. Ähnlich definiert ihn Avé-Lallemant im Band über Das deutsche Gaunertum (1862): »Schlemiel (im Plural mit hebräischer Endung Schlemielim), der Unglücksvogel, Pechvogel, dem alles misslingt, der bei seinen Unternehmungen gestört, ertappt oder in der Untersuchung verraten oder überführt wird.«

Außenseiter Das als »Schlimül« 1812 zuerst im Rotwelschen belegte Wort wurde ein Jahr später weithin bekannt durch Peter Schlemihls wundersame Geschichte, verfasst von Adelbert von Chamisso, dessen Fantasiefigur dem Teufel leichtfertig ihren Schatten verkauft und dafür als Außenseiter geächtet wird. Ruth R. Wisses Arbeit The Schlemiel as Modern Hero (1971) behandelt die Transformation des jiddischen Schlemiel in die amerikanisch-jüdische Erzählliteratur – von Scholem Alejchem bis zu Saul Bellow und Bernard Malamud.

Zur Herkunft führt Tendlau in den Jüdischen Sprichwörtern und Redensarten (1860) aus: »Schlemiel (weiblich Schlemielte) oder, wie z. B. Chamisso schreibt, Schlemihl, welches gemeiniglich für ein hebräisches Wort genommen wird, das durch Berührung mit Juden allmählich in die deutsche Volkssprache und Literatur eingedrungen sei, bietet für die Erklärung große Schwierigkeit, so unbezweifelt gewiss seine Bedeutung ist.«

Über den hebräisch-aramäischen Phraseologismus »sche lo me’alija« (= der nicht gut ist) wurde ebenso spekuliert wie über »schello mo’il« (= der nichts nützt) und »Schelumi’el«, den Fürsten des Stammes Simeon (Numeri 2,12). Doch »der Schlemihl ist – ein wahrer Schlemihl, auch in der sprachlichen Ableitung seines Namens«, urteilt Enno Littmann in den Morgenländischen Wörtern im Deutschen (1924).

Eherecht Die Herleitung des Szegediner Rabbiners Leopold Löw, 1875 vorgelegt in dessen Buch Die Lebensalter in der jüdischen Literatur, weist schlüssig ins 14. Jahrhundert auf den Rabbinatsschüler Schlemiehl zu Ens in Österreich. Als dessen Frau nach elf Monaten seiner Abwesenheit ein Kind gebar, wurde ihm eingeredet, er sei der Vater, weil »nach rabbinischem Eherecht die Geburt bis zum Ende des 12. Lunarmonats retardiert werden« könne.

»Seitdem«, so Rabbiner Löw, »ist dieser Name unter den deutschen Juden ein Spottname geworden: wen ohne sein Verschulden Missgeschicke treffen, wird als Schlemiehl bedauert.« Daher konnte Enno Littmann resümieren: »Dann hat auch Chamisso recht gehabt, das Wort als Eigennamen zu fassen.«

Der Autor ist Sprachwissenschaftler und Professor em. am Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Hamburg. Zuletzt erschien von ihm » Gauner, Großkotz, kesse Lola. Deutsch-jiddische Wortgeschichten« (Be.bra, Berlin 2016).

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