Prager Vorfrühling

Aufstand an der Moldau

Ludvik Vaculik, Milan Kundera und Ivan Klima (v.l.) beim 4. Tschechoslowakischen Schriftstellerkongress Ende Juni 1967 Foto: dpa

Prager Vorfrühling

Aufstand an der Moldau

Vor 50 Jahren revoltierten Schriftsteller gegen das spätstalinistische Regime und dessen Israel-Feindlichkeit

von Marko Martin  26.06.2017 20:49 Uhr

Der 26. Juni 1967 war ein ungewöhnlich heißer Tag. In Prag zeigte das Thermometer 35 Grad an, und in den überfüllten Straßenbahnen schwitzten die Menschen. »Wir verließen nur ungern die Ufer der tschechischen Flüsse, um an dem IV. Kongress des Tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes teilzunehmen«, sollte Pavel Kohout später schreiben, einer der Protagonisten jener Tage, die sich zu einer Zäsur entwickelt hatten – und damit zum geistigen Vorboten des Prager Frühlings 1968.

Bereits zu Beginn war es zum Eklat gekommen: Jirí Hendrych, Abgesandter des Zentralkomitees der KP, rügte prominente Parteimitglieder unter den Schriftstellern, da sie die einseitig pro-arabische Regierungsposition während des kurz zurückliegenden Sechstagekrieges zu kritisieren gewagt hatten und nun auch noch »gesellschaftliche Reformen« forderten.

Die derart harsch angegangenen Genossen – unter ihnen Pavel Kohout, Eduard Goldstücker, Ivan Klima und Milan Kundera – gaben jedoch nicht etwa klein bei, sondern präzisierten in ihren Antworten sogar noch die Forderungen nach einer freien Gesellschaft ohne Zensur.

Parallelen »Der Krieg im Nahen Osten«, entgegnete der (nichtjüdische) Dramatiker und Romancier Pavel Kohout, »und das Pressegesetz in der Tschechoslowakei sind zwei Dinge, die nur auf den ersten Blick nicht zusammenhängen.« Dürfte nämlich frei diskutiert werden, so seine Folgerung, würden die Parallelen zwischen der kleinen, wehrlosen Tschechoslowakei des Jahres 1938 und dem ebenso bedrohten Israel vom Sommer ’67 offenbar. »Wenn 1938 unser Heimatland statt der Kapitulation den ersten Schuss abgegeben hätte, könnte es von gerechten Richtern als Aggressor bezeichnet werden? Wohl kaum.« Die Schriftsteller spendeten Beifall, während die Parteioberen ihren Ohren nicht trauten.

Besonders hassten sie den Literaturwissenschaftler Eduard Goldstücker, der einst die deutsche Besatzung im britischen Exil überlebt hatte und nach seiner Rückkehr den Stalinismus der frühen 50er-Jahre am eigenen Leib erfuhr. Im Zuge des antisemitisch konnotierten Schauprozesses gegen Rudolf Slánský 1951 als tschechischer Botschafter in Israel abberufen und danach sogleich in Prag verhaftet, hatte er – nach 18 Monaten brutaler Untersuchungshaft – zweieinhalb Jahre Strafarbeit im Uranbergbau ableisten müssen, ohne Strahlenschutz.

Kafka Nach seiner Rehabilitierung hatte Goldstücker 1963 die berühmte Kafka-Konferenz in Liblice initiiert. Die beginnende Diskussion über Kafkas Romane wie Der Prozess oder Das Schloss war vom argwöhnischen Regime sofort in ihrem subversiven Charakter erkannt worden – obwohl (oder gerade weil) sich der 1913 geborene Goldstücker zeitlebens als Reform-Marxist sah und bei jenem Schriftstellerkongress 1967 seine kritische Rede sogar noch mit einem »Genossen und Genossinnen« begann.

Als Pavel Kohout am 29. Juni dann auch noch öffentlich einen Brief des verfemten russischen Schriftstellers Alexander Solschenizyn verlas, war das Maß endgültig voll, und der Partei-Ideologe Hendrych schrie ein entnervtes: »Jetzt habt ihr Schriftsteller endgültig verschissen!« In der Folge des Kongresses wurden die Autoren entweder aus der KP ausgeschlossen oder disziplinarisch belangt, was jedoch lediglich zur Folge hatte, dass sie sich nun Kollegen wie Václav Havel näherten, die seit jeher nicht-kommunistisch orientiert gewesen waren.

Das sklerotisch spätstalinistische Regime unter Antonin Novotny musste erfahren, dass es trotz Repression die Kontrolle zu verlieren begann, und geriet ins Wanken. Als im Januar 1968 schließlich der hoffnungsvolle Reformer Alexander Dubcek zum neuen Parteichef gewählt wurde (und wenig später Eduard Goldstücker zum Präsidenten des Schriftstellerverbandes), war auch dies ein Resultat der Revolte vom Juni 1967.

Echo Wer das Glück hatte, in den Jahren nach der Revolution von 1989 noch einige der damaligen Protagonisten in Prag zu treffen, machte die Bekanntschaft mit mental jung gebliebenen Jahrhundertzeugen, die sich voller Detailfreude, doch ohne falsches Pathos, an ihr damaliges Aufbegehren erinnerten, für das sie nach der Niederschlagung des Prager Frühlings im August 1968 einen derart hohen Preis hatten zahlen müssen: jahrzehntelanges Berufsverbot, Haft, Exil.

Gerade deshalb leuchtet die Erinnerung an ihr tapferes Widerstehen: an Pavel Kohouts sympathische Eloquenz oder Eduard Goldstückers Gentleman-Rhetorik im Café Milena am Altstädter Ring, als er sich an seine frühe Jugend erinnerte und an die Zeit bei Hashomer Hatzair. Oder, ironisch gebrochen in den Worten des Romanciers Ivan Klima, der als jüdisches Kind das KZ Theresienstadt überlebt hatte und sich späterhin von den Stalinisten nicht einschüchtern ließ: »Was wir ’67 gefordert hatten, war doch das Normalste der Welt. Und das Echo? Damn, what a beautiful noise!«

Der Autor ist Schriftsteller und schrieb unter anderem über diese Begegnungen das Buch »Treffpunkt 89. Von der Gegenwart einer Epochenzäsur« (Hannover 2014).

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