Interview

»Anschläge sind möglich«

»Theo van Gogh hat mich zu diesem Buch gezwungen«: Leon de Winter Foto: dpa

Interview

»Anschläge sind möglich«

Leon de Winter über Theo van Gogh, Schutzengel und seinen neuen Roman

von Günter Keil  07.10.2013 19:41 Uhr

Mit mehr als einer Million verkauften Büchern in Deutschland zählt Leon de Winter zu den erfolgreichsten niederländischen Autoren. Seine Romane wurden in 21 Sprachen übersetzt. Kontroverse gesellschaftspolitische Themen und die oft selbstironische Auseinandersetzung mit seiner Religion prägen das Werk des 58-Jährigen. De Winters Eltern, orthodoxe Juden, überlebten die Schoa in einem Versteck, das ihnen katholische Geistliche zur Verfügung stellten. Soeben ist de Winters zwölfter Roman »Ein gutes Herz« (Diogenes) erschienen. Darin spielen er selbst und der mit ihm verfeindete, 2004 ermordete Regisseur Theo van Gogh wichtige Rollen. De Winter lebt mit seiner Frau, der Schriftstellerin Jessica Durlacher, in Amsterdam und Los Angeles.

Herr de Winter, haben Sie einen Schutzengel?
Nein. Ich fürchte, kein Schutzengel der Welt kann dabei durchhalten, mir zu helfen, all meine Versäumnisse wieder rückgängig zu machen.

Wer beschützt Sie dann?
Ich hoffe, dass mich meine Frau beschützt – zumindest vor meinen schlimmsten Fehlern.

In Ihrem neuen Roman ist der ermordete Filmemacher Theo van Gogh Ihr Schutzengel. Ist er Ihnen einmal in dieser Rolle begegnet?
Das stimmt wirklich: Es gab einen bestimmten Moment, einen Traum. In diesem zeigte Theo sich mir und besuchte mich.

War das ein Schock für Sie?
Viel mehr haben mich die YouTube-Videos schockiert, in denen Theo van Gogh zu sehen ist, wie er in einer alten Fernsehshow über mich spricht und mich beschimpft. Jeder kann sich das im Internet ansehen.

In »Ein gutes Herz« heißt es, dass Ihnen der Hass van Goghs fehlt. Stimmt das?
Ja, ich glaube schon. Ich selbst habe dagegen gar nicht die Energie, meine Feinde weiter zu hassen. Ich vergesse sie einfach.

Grundsätzlich scheinen Sie Konfrontationen jedoch zu mögen.
Nein, im Gegenteil. Ich mag Auseinandersetzungen gar nicht und bevorzuge Harmonie. Aber die ist in der Regel nicht möglich. Um mich also selbst nicht zu verleugnen, muss ich meine Gegner bekämpfen – natürlich immer nur verbal.

Hatte das Schreiben über van Gogh für Sie eine therapeutische Wirkung?
Obwohl das gar nicht meine Absicht war, als ich mit dem Schreiben begann, trat eine therapeutische Wirkung tatsächlich ein. Ich wollte eigentlich nur eine gute Geschichte erzählen, aber während ich an dem Roman arbeitete, bemerkte ich, dass ich van Gogh vergeben konnte.

Sie selbst kommen in Ihrem Buch auch vor. Dieser Leon de Winter wird als übergewichtiger Scharlatan bezeichnet. Fiel es Ihnen schwer, so hart zu urteilen?
Diese Person, die Leon de Winter heißt, habe ich frei erfunden. Er ist ganz anders als ich – in der Realität bin ich nämlich zuverlässig, gut gebaut und sehe aus wie ein Bodybuilder!

Hatten Sie schon länger vor, sich selbst als Figur in einen Ihrer Romane einzubauen?
Nein. Aber Theo hat mich dazu gezwungen. Als ich eines Tages beschloss, ihn in den Roman hineinzuschreiben, wurde mir klar, dass auch ich selbst nicht im Hintergrund bleiben konnte.

Sie schildern in »Ein gutes Herz« einen Terroranschlag auf das Opernhaus in Amsterdam und nennen Politiker bei ihren echten Namen. Wie waren die Reaktionen in den Niederlanden?
Grundsätzlich sehr positiv. Soweit ich das beurteilen kann, wurden die Personen, die ich beschrieben habe, dadurch nicht gekränkt. Sie wissen, dass ich ihre Alter Egos nicht deswegen erfunden habe, um sie zu verletzen. Aber natürlich gibt es trotz allem Leser, die jetzt Angst vor einem Besuch des Opernhauses haben.

Halten Sie einen Anschlag wie in Ihrem Roman für möglich?
Alles ist denkbar – die meisten Dinge, die man sich vorstellen kann, können wirklich passieren.

Wie beurteilen Sie grundsätzlich die aktuelle Gefahr islamistischer Terroraktionen in Europa?
Wir haben das Glück, dass unsere Geheimdienste ziemlich gute Arbeit leisten. Sie verhindern 99,9 Prozent der geplanten Anschläge. Ich glaube schon, dass die Bedrohung echt ist.

Sie erzählen Ihren Roman aus verschiedenen Perspektiven. Welche ist Ihnen am schwersten gefallen?
Eigentlich waren sie alle angenehm, am meisten mochte ich den kleinen Jungen. Am schwierigsten war Mohammed Boujeri, der Mörder von Theo van Gogh.

Und wie war es für Sie, einen jungen Terroristen zu Wort kommen zu lassen?
Ich wollte jede Stimme berücksichtigen. Und sogar den Terroristen konnte ich verstehen, wenngleich ich absolut ablehne, was er im Roman tut. Aber mein Buch konnte nur funktionieren, wenn auch seine Perspektive so ausgereift wie alle anderen war.

Warum haben Sie sich dagegen entschieden, aus Ihrer Geschichte einen klassischen Thriller zu machen?
Wegen Theo. Er hat mich gezwungen, ihn in den Roman hineinzuschreiben. Aber er ist tot. Also musste ich dafür eine Lösung finden, was bedeutete, dass der Roman eine neue Struktur brauchte, ein neues Herz. Es ist ein aufregendes Herz.

Ihre unmoralische Hauptfigur verändert sich positiv durch ein implantiertes Herz eines guten Menschen. Halten Sie das für realistisch?
Ich glaube, dass es wirklich so passieren kann. Aber nur, wenn derjenige, der so ein Spenderherz erhält, auch selbst daran glaubt.

Sind Sie mit Ihrem Herzen zufrieden?
Bis jetzt ja – es ist ein wunderbares Herz.

In Ihrem Buch steht, dass Leon de Winter geschieden ist. Sie sind aber noch verheiratet. Was hält Ihre Frau davon?
Ich habe Jessica um Erlaubnis gefragt, als ich die betreffenden Passagen schrieb. Anfangs gefiel es ihr überhaupt nicht, als Statistin in Ein gutes Herz aufzutauchen, aber es gab deswegen nie einen Streit zwischen uns. Sie hat eben einen guten Sinn für Humor!

Mit dem Schriftsteller sprach Günter Keil.

Leon de Winter: »Ein gutes Herz«. Roman. Deutsch von Hanni Ehlers. Diogenes, Zürich 2013, 505 Seiten, 22,90 €

Medien

Leon de Winter wird Kolumnist bei der »Welt«

Bekannt wurde er vor mehr als 30 Jahren mit Romanen wie »Hoffmanns Hunger«. Jetzt will der niederländische Autor Leon de Winter in Deutschland vermehrt als Kolumnist von sich hören lassen

von Christoph Driessen  29.04.2025

Fernsehen

»Persischstunden«: Wie eine erfundene Sprache einen Juden rettet

Das Drama auf Arte erzählt von einem jüdischen Belgier, der im KZ als angeblicher Perser einen SS-Mann in Farsi unterrichten soll. Dabei kann er die Sprache gar nicht

von Michael Ranze  29.04.2025

Fernsehen

»Mord auf dem Inka-Pfad«: War der israelische Ehemann der Täter?

Es ist einer der ungewöhnlichsten Fälle der deutschen Kriminalgeschichte. Die ARD packt das Geschehen in einen sehenswerten True-Crime-Vierteiler

von Ute Wessels  29.04.2025

Berlin

Antisemitismusbeauftragter für alle Hochschulen soll kommen

Details würden derzeit noch im Senat besprochen, sagte Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra

 29.04.2025

Jerusalem

Seltenes antikes Steinkapitell wird in Israel ausgestellt

Ein Fund aus dem Jahr 2020 gibt israelischen Archäologen Rätsel auf. Die Besonderheit des Steinkapitells aus römischer Zeit: Es ist mit einem mehrarmigen Leuchter - im Judentum Menorah genannt - verziert

 29.04.2025

Berlin

Jüdisches Museum erforscht Audio-Archiv von »Shoah«-Regisseur

Claude Lanzmann hat mit seiner epochalen Dokumentation »Shoah« Geschichte geschrieben. Das Jüdische Museum Berlin nimmt ein Doppeljubiläum zum Anlass, um das umfangreiche Recherchematerial des Regisseurs zu erschließen

von Alexander Riedel  29.04.2025

Köln

»Charlie Hebdo«-Überlebender stellt Comic zu NS-Raubkunst vor

»Zwei Halbakte« heißt ein 1919 entstandenes Gemälde von Otto Mueller. Die Geschichte des Kunstwerks hat der französische Zeichner Luz als Graphic Novel aufgearbeitet. Mit teils sehr persönlichen Zugängen

von Joachim Heinz  28.04.2025

Berlin

»Eine Zierde der Stadt«

Es ist einer der wichtigsten Orte jüdischen Lebens in Deutschland: Vor 30 Jahren wurde das Centrum Judaicum im denkmalgeschützten Gebäude der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin-Mitte eingeweiht

 28.04.2025

Paris

»Bambi«-Neuverfilmung: Nah an Felix Saltens Original

Ganz ohne Spezialeffekte und Animation: In Michel Fesslers »Bambi«-Neuauflage stehen echte Tiere vor der Kamera. Das Buch wurde einst von den Nazis verboten

von Sabine Glaubitz  28.04.2025