Gesundheit

Angst durch Krisen

Was tun bei permanentem Stress? Können wir Angst und Depressionen einfach davonrennen? Foto: Chris Hartung / Hahn&Hartung

Gesundheit

Angst durch Krisen

Der israelische Neurobiologe Alon Chen erforscht die Auswirkungen von Stress auf das Gehirn

von Helmut Kuhn  08.03.2022 07:28 Uhr

In Europa fallen Bomben. Menschen fliehen, suchen Schutz, stehen unter extremer Belastung. Niemand weiß, wie es weitergeht. »Permanenter Stress kann krank machen, Angstzustände, Depressionen und psychische Störungen hervorrufen bis hin zum posttraumatischen Stresssyndrom« oder sogar Typ-2-Diabetes, sagt Alon Chen.

Der Neurobiologe und Professor am international renommierten Weizmann-Institut für Wissenschaften im israelischen Rechovot beschäftigt sich seit mehr als 20 Jahren mit den Auswirkungen von Stress auf das menschliche Gehirn. Während seines Wehrdienstes musste er als Fallschirmjäger im Libanonkrieg erleben, wie er einen verletzten Freund nicht mehr retten konnte. Er sah ihm beim Sterben zu. Das habe eine tiefe Wunde hinterlassen, sagt er. So habe er es sich seither zum Ziel gesetzt, zu erforschen, was mit einem Gehirn passiert, das ein Trauma erlebt.


»Die Pandemie hat uns gelehrt, dass wir sehr soziale Organismen sind.«

Alon Chen

Auch abseits von Krieg und Bomben − sei es durch Erkrankung oder stresshafte Lebensumstände und Einschränkungen – entwickeln Menschen heute zunehmend psychische Störungen, etwa im Zusammenhang mit Covid-19. »Die Pandemie hat uns auch gelehrt, dass wir sehr soziale Organismen sind. Wir sind gern mit anderen Menschen zusammen, küssen und umarmen uns, haben Partner, und wenn das alles wegfällt, leiden wir«, so Chen.

STUDIE Eine im Oktober vergangenen Jahres im »Lancet Medical Journal« veröffentlichte Studie ergab: Im Zuge der Pandemie traten in 204 Ländern 53 Millionen neue Fälle von schweren Depressionen und 76 Millionen zusätzliche Fälle von Angststörungen auf. »Die Psychiatrien sind voll. Wir sehen depressive Kinder oder junge Erwachsene, die ihre Jobs, ihre Geschäfte verloren haben und Traumata erlitten. Der Einfluss der Pandemie auf die psychische Gesundheit ist enorm, aber wir befassen uns nicht genug damit, und dies wird uns noch Jahre nach der Pandemie beschäftigen«, sagt Chen.

Denn am Ende der Pandemie würden sich die Intensivstationen zwar wieder leeren. »Aber wir werden weiterhin Menschen beobachten, die Traumata, Depressionen und Ängste aufgrund der Pandemie entwickeln«, prophezeit der Neurobiologe, der in seiner Forschung eng mit dem deutschen Max-Planck-Institut zusammenarbeitet.

So ähnlich könnte es sich auch in der Kriegssituation entwickeln. In Gefahrenmomenten reagiere man mit einer »zentralen Stress-Antwort«, die den ganzen Körper aktiviere. Diese erhöhe Blutdruck, Glukosespiegel und Atmung, das Stresshormon Cortisol werde ausgeschüttet, das wiederum auf das Gehirn einwirke. Gehe die Gefahr vorüber, schalte das System wieder ab. Manche Menschen aber könnten dieses »Abschalten« nicht kontrollieren und entwickeln stressbedingte Krankheiten.

STRESS Aber warum reagieren einige, die chronischem Stress oder einem traumatischen Erlebnis ausgesetzt sind, mit Krankheiten, während andere dagegen resistent scheinen? »Wir wissen, dass viele dieser Krankheiten genetisch bedingte Komponenten besitzen«, sagt Chen. Etwa wie bei der Schizophrenie, die zu 70 bis 80 Prozent auf genetischer Vererbbarkeit beruhen könne. Umwelt und Ernährung seien weitere Komponenten – die wichtigste aber sei Stress. »Alles, was wir essen, trinken, einatmen, und vor allem Stress können auf eine genetische Prädisposition treffen und Krankheiten auslösen.«

Depressionen, Ängste oder Bulimie nehmen in Zeiten der Pandemie und des Krieges zu. Gleichzeitig aber würden diese Phänomene seit 50 Jahren mit den gleichen Medikamenten wie etwa Prozac behandelt, die Nebenwirkungen zeigten und bei mindestens einem Drittel der Patienten gar nicht anschlagen würden, so Chen. »Wir brauchen dringend neue Lösungen, und die bekommen wir nur, wenn wir das Gehirn verstehen. Wir haben große Fortschritte gemacht in den vergangenen zehn Jahren, aber genetische Vorbelastungen sind sehr kompliziert und liegen nicht auf nur einem Gen.«

Sport ist die beste Methode, Depressionen und Ängsten zu begegnen.

Was kann der Einzelne tun, um sich gegen diese Phänomene zu schützen oder erlittene Traumata zu lindern – neben der Einnahme von Medikamenten? »Das probateste wissenschaftlich erwiesene Mittel ist Bewegung. Sport ist die beste Methode, Depressionen und Ängsten zu begegnen«, so Chen.

Das sei keine neue Weisheit, bestätigt Anders Hovland, Professor an der Psychologischen Fakultät der Universität Bergen in Norwegen, gegenüber dem »Smithsonian Magazine«. »Aber wir beginnen jetzt zu verstehen, wie genau diese Effekte entstehen.«

LINDERUNG Physisches Training erhöhe etwa die Freisetzung eines Proteins, das als Brain-Derived Neurotrophic Factor (BNDF) bezeichnet werde. Dieses sei auch an der Zellerneuerung selbst im Hippocampus beteiligt, einer Region im Gehirn, die bei Schizophrenie oder Depression messbar verkleinert sei. Ebenso im Bereich von Angstzuständen könne selbst moderate Bewegung Linderung verschaffen.

Können wir also Angst und Depressionen sprichwörtlich davonrennen? »Man muss keinen Marathon laufen. Jede Form von aerobischer und anaerobischer Aktivität hilft«, sagt Chen. Eine weitere wissenschaftlich erwiesene Methode der Stressbewältigung sei Meditation. »Das funktioniert nicht bei jedem, aber vielen Menschen hilft es.« Er selbst fahre dreimal in der Woche mit dem Kajak auf dem Meer. Ebenso helfe ihm schlicht entspannende Arbeit im Garten.

»In Israel haben wir alle paar Jahre eine harte Zeit mit Konflikten und Raketen und Sirenen.«

Alon Chen

Bereits eine vom Weizmann-Institut zwischen dem Ende des ersten Covid-19-Ausbruchs in Israel und dem Beginn der zweiten Welle im April 2020 unter 5000 Teilnehmern durchgeführte Studie ergab: Männer seien zwar anfälliger, schwere Verläufe zu entwickeln, aber Frauen und insbesondere junge Erwachsene, Kinder und Arbeitslose seien stärker von mentalen Folgen betroffen. Zudem zeigte die Studie ein weiteres Phänomen: Die Schwere der mentalen Erkrankungen erschien nicht höher als in früheren Erhebungen, und das Level sei insgesamt weniger hoch als in den Zeiten von Krieg und militärischen Operationen.

»In Israel haben wir alle paar Jahre eine harte Zeit mit Konflikten und Raketen und Sirenen. Man könnte sagen, da existiert eine gewisse Immunität in der Bevölkerung«, erklärt sich Chen diesen Umstand. »Ich glaube, das ist einer der Gründe dafür, dass Israel die Pandemie bisher so gut gemeistert hat. Wir sind extrem organisiert. Das System ist für Notfälle bestens aufgestellt.«

Berlin

Mut im Angesicht des Grauens: »Gerechte unter den Völkern« im Porträt

Das Buch sei »eine Lektion, die uns lehrt, dass es selbst in den dunkelsten Zeiten Menschen gab, die das Gute dem Bösen vorzogen«, heißt es im Vorwort

 17.09.2025

Israel

»The Sea« erhält wichtigsten israelischen Filmpreis

In Reaktion auf die Prämierung des Spielfilms über einen palästinensischen Jungen strich das Kulturministerium das Budget für künftige »Ophir«-Verleihungen

von Ayala Goldmann  17.09.2025

Berlin

»Stärker als die Angst ist das menschliche Herz«

Die Claims Conference präsentiert in einem Bildband 36 Männer und Frauen, die während der Schoa ihr Leben riskierten, um Juden zu retten

von Detlef David Kauschke  17.09.2025

Auszeichnung

Theodor-Wolff-Preis an Journalisten vergeben

Der Theodor-Wolff-Preis erinnert an den langjährigen Chefredakteur des »Berliner Tageblatts«, Theodor Wolff (1868-1943)

 17.09.2025

Los Angeles

Barbra Streisand über Dreh mit Robert Redford: »Pure Freude«

Mit dem Klassiker »The Way We Were« (»So wie wir waren«) brachen die beiden Stars in den 70er-Jahren Millionen Herzen. Nach dem Tod von Redford blickt Hollywood-Ikone Streisand zurück auf den Dreh

von Lukas Dubro  17.09.2025

Kritik

Toni Krahl hat »kein Verständnis« für israelfeindliche Demonstrationen

Was in der Region um Israel passiere, sei ein Drama, das sich über Jahrzehnte entwickelt habe, sagte Krahl

 17.09.2025

Berlin

Für Toleranz, Demokratie: Margot Friedländer Preis vergeben

Es ist die erste Preisverleihung nach dem Tod der Stifterin. Ausgezeichnet wird der Einsatz für die Ideale der im Frühjahr gestorbenen Holocaust-Überlebenden

 17.09.2025

Hochstapler

»Tinder Swindler« in Georgien verhaftet

Der aus der Netflix-Doku bekannte Shimon Hayut wurde auf Antrag von Interpol am Flughafen festgenommen

 16.09.2025

Eurovision Song Contest

Streit um Israel: ESC könnte wichtigen Geldgeber verlieren

RTVE ist einer der fünf größten Geldgeber des Eurovision Song Contest. Umso schwerer wiegt der Beschluss, den der spanische Sender verkündet

 16.09.2025