Frau Achlama, am 12. Mai 1965 wurden diplomatische Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Israel aufgenommen. Sie waren damals 19 Jahre alt und lebten in Mannheim. Können Sie sich an diesen Tag erinnern?
An den Tag genau nicht, aber ich erinnere mich sehr gut an meine Begeisterung damals. Ich bin nicht jüdisch geboren und später zum Judentum konvertiert, aber ich habe schon sehr früh eine Liebe zu Israel entwickelt. Ich war begeistert davon, wie Juden nach dem Holocaust so ein tolles Land aufgebaut haben. Und im Nachhinein kann ich sagen, dass ich es mir als Lebensaufgabe gestellt hatte, zu einem guten Verhältnis zwischen Deutschland und Israel beizutragen.
Sie sind 1974 nach Israel eingewandert und haben einen Israeli geheiratet. Welche Beziehungstipps können Sie geben – zum Beispiel Politikern?
Ich bin keine Eheberaterin. Aber ich würde sagen, wichtig ist, dass einem die Beziehung heilig ist, dass man sie aufrechterhalten will – und dann muss sie gepflegt werden. Man muss im Gespräch bleiben und durchaus auch freundliche Kritik üben. Also nicht nur sagen, alles ist gut und schön – das wäre gelogen. Was Deutschland an Israel nicht gefällt und umgekehrt, soll man einander freundlich sagen – sich aber nicht anschreien.
Schon als Schülerin hatten Sie beschlossen, dass Sie Übersetzerin werden wollen. Wussten Sie damals auch schon, dass es Hebräisch werden sollte?
Nein, ich kannte ja noch keinen einzigen Buchstaben. Ich dachte erst eher an Italienisch. Aber Hebräisch war später toll für mich, weil es damals kaum Konkurrenz gab.
Seit den 60er-Jahren hat sich der Markt für israelische Autorinnen und Autoren in Deutschland enorm entwickelt. Wie haben Sie das miterlebt?
Der erste größere Antrieb war natürlich der Nobelpreis für Samuel Agnon 1966. Und nach dem Sechstagekrieg 1967 gab es auch von israelischer Seite mehr Bereitschaft für Beziehungen zu Deutschland und zu Deutschen. Auf dieser Welle bin ich ins Übersetzen gekommen, weil händeringend Leute gesucht wurden. Erst habe ich die älteren Autoren wie Amos Oz übersetzt, für die Jüngeren war Etgar Keret der Wegbereiter – der ist jetzt auch nicht mehr der Jüngste. Aber damals war er »der junge Israeli«, und das hat sich etabliert. Die Welle ist ungebrochen, damit ist Deutschland immer noch ein Ausnahmefall. Es ist erstaunlich, aber ich bin wieder ein Jahr im Voraus ausgebucht. Es gibt sogar Bücher, die erscheinen erst auf Deutsch und dann auf Hebräisch.
Welche Bücher sind das?
»Wo der Wolf lauert« von Ayelet Gundar-Goshen zum Beispiel, das erschien auf Hebräisch erst ein halbes Jahr nach der deutschen Fassung.
Sie haben fast alle großen israelischen Schriftsteller übersetzt: zuerst Yoram Kaniuk, dann Amos Oz, Abraham B. Yehoshua, später Ayelet Gundar-Goshen. Auf welche Übersetzung sind Sie am stolzesten?
Stolz ist nicht so mein Wort, aber Freude. Ich habe mich immer wieder gefreut, wenn etwas gelungen war. Am Anfang war ich sehr froh über das erste Buch – und dass Yoram Kaniuk nicht gesagt hat: »Nein, ich will einen eingefahrenen Übersetzer, keinen Neuling.« Natürlich wollte jeder Amos Oz übersetzen. Dass ich das lange durfte, war für mich wunderbar. Und dass ich später den Sprung in die jüngere Generation von Schriftstellern geschafft habe. Stolz, wenn überhaupt, bin ich auf die Übersetzung von Bialik. Das war eine echte Herausforderung.
Mit »Wildwuchs« haben Sie drei Erzählungen des israelischen Nationaldichters Chaim Nachman Bialik übertragen. Diese Erzählungen, bisher noch nie auf Deutsch erschienen, sind mehr als 100 Jahre alt. Das war bestimmt ein anderes Arbeiten als bei der Übersetzung moderner israelischer Schriftsteller?
Natürlich. Nicht umsonst hat auch die hebräische Ausgabe ein langes Glossar. Es gibt einfach Wörter, die heute nicht mehr in Gebrauch oder zweideutig sind. Manchmal weiß man nicht so recht: Ist das jetzt eine Gurke oder eine Rübe, die sie da aus dem Boden ziehen? Ich habe, was ich seit Jahren nicht mehr getan hatte, auch die englischen Übersetzungen zu Hilfe genommen. Nicht immer fand ich alles richtig, aber es war eine Hilfe, die für mich sehr wichtig war. Es war eine wunderbare Zusammenarbeit mit dem Verlag und dem Lektor. Und ich bin sehr froh, dass dieses Buch in Deutschland ein Erfolg ist.
Eine der Geschichten von Bialik heißt »Hinter dem Zaun« und handelt von einer verbotenen Liebe zwischen einem jungen Juden und einer Nichtjüdin, die ein erwartbares Ende findet für die damalige Zeit. Wie lesen Sie diese Geschichte?
Diese Geschichte ist fantastisch. Auch, was Bialiks Kritik an den Juden angeht. Sehr berührend, plastisch erzählt und glaubhaft. In der englischen Übersetzung von 1939 wurde diese Geschichte übrigens ausgelassen. Ich bin überhaupt sehr froh über die Auswahl der Geschichten. »Die beschämte Trompete« ist von der Handlung her moderner als »Hinter dem Zaun« – auf sie wird übrigens auf dem Cover angespielt. Ich meine die Szene, wo die Mutter im Wald Kerzen zündet – und man sieht den Vollmond, der an den Sederteller erinnert.
In dem Band »Wildwuchs« ist auch Bialiks Gedicht »Stadt des Tötens« über das Pogrom von 1903 in Kischinew enthalten. Dabei konnten Sie auf eine ältere Übersetzung zurückgreifen …
Ich übersetze keine Lyrik, ich habe nur einzelne Wörter ersetzt, die heute komisch klingen oder nicht mehr verständlich sind. Ich habe mit der Übersetzung von Ernst Müller gearbeitet, die das Gedicht meiner Ansicht nach zu Recht etwas gekürzt wiedergibt, weil Bialik sich sehr in den Details der Grausamkeiten ergeht.
Liest man dieses Gedicht nach dem Massaker des 7. Oktober 2023 mit anderen Augen?
Ja, natürlich, denn auch der 7. Oktober war ein Pogrom, mit Vergewaltigungen und Grausamkeiten und Mord, das man in Israel nicht für möglich gehalten hätte. Viele Juden, die noch vor der Staatsgründung aus der Diaspora nach Israel eingewandert sind, haben ihren Kindern gesagt: Ihr werdet noch Kriege hier in Israel erleben, aber kein Pogrom. Und nun ist genau das passiert, in erschreckender Ähnlichkeit. Nur dass es damals 50 Tote waren und jetzt über 1000. Das Schreckliche am 7. Oktober war ja nicht nur das Morden an sich, sondern dass überhaupt keine Hilfe kam. Der Staat war ja nicht da. Das Militär war nicht da. Keine Feuerwehr, gar nichts.
Wie würden Sie sich wünschen, dass die israelische Gesellschaft das Trauma verarbeitet?
Das geht nicht, solange Krieg herrscht. Das Grauen geht ja weiter. Die Geiseln sind immer noch in Gaza. Und mein Mann und ich sind schockiert über die Art, wie dieser Krieg geführt wird. Es sieht leider danach aus, dass er in seiner Brutalität weitergeführt wird, damit Benjamin Netanjahu im Amt bleibt.
Das ist ein schrecklicher Satz.
Aber nicht nur wir sagen ihn. Solange das Grauen weitergeht, solange der Platz der Geiseln in Tel Aviv weiter gebraucht wird, können wir das Trauma nicht verarbeiten. Es ist nicht so, dass das Leben hier nicht weitergeht. Die Restaurants sind voll. Es wird gearbeitet und gelacht und gefeiert. Aber über allem hängt eine Art Trauerflor. Und wir leiden auch mit den Bewohnern von Gaza. Wir freuen uns nicht über tote Kinder.
Haben Sie nach dem 7. Oktober oder überhaupt jemals daran gedacht, nach Deutschland zurückzukehren?
Im Großen und Ganzen: Nein. Mein Mann ist in siebter Generation Israeli, und ich habe keine Verwandten in Deutschland. Wir sind sehr verzweifelt über die Regierung mit Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich. Aber selbst, wenn wir wollten, könnten wir gar nicht auswandern. Ich bin 79, in unserem Alter würde uns in Deutschland keine Krankenkasse mehr nehmen.
Und was erwarten Sie von einer neuen Bundesregierung in Berlin?
Ich gehe davon aus, dass Friedrich Merz die guten Beziehungen zu Israel weiterführen will. Da bin ich vorsichtig optimistisch. Aber sein Zickzackkurs macht mir Sorge.
Was meinen Sie damit?
Ich finde, die größte Gefährdung für Deutschland überhaupt und für die deutsch- israelischen Beziehungen im Besonderen ist die AfD. Den Kurs von Friedrich Merz vor der Wahl konnte ich nicht ganz nachvollziehen. Wenn die Brandmauer zur AfD bröckelt, dann ist für mich Deutschland erledigt. Ja, die AfD ist im Bundestag. Das ist okay, solange sie nicht verboten ist. Aber ich halte sie für eine Gefahr. Jedes Liebäugeln mit ihr halte ich für falsch. Und ich hoffe, dass Merz auf den richtigen Kurs kommt. Er war nicht mein Wunschkandidat, aber hoffen wir das Beste.
Mit der Literaturübersetzerin sprach Ayala Goldmann.
Chaim Nachman Bialik: »Wildwuchs. Erzählungen aus Wolhynien«.
Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. C.H. Beck, München 2025, 299 S., 26 €