Sachbuch

Alija mit Wischmopp

Man nimmt das Schlimmste an. Das Ganze fängt an, als sei man mitten in einem Text eines der letzten dem Hipster-Zeitgeist vergeblich hinterherhechelnden Jung-Magazine. Flockig. Unverkrampft. Es tauchen ganz, ganz viele gut gelaunte Freunde auf. Es wird ganz viel getanzt und zusammen gekocht in einer Miniaturküche. Alle haben zwar wenig bis gar kein Geld, dafür »Projekte«.

Aber das spielt keine Rolle. Sie sind jung. Die Sonne scheint, auch wenn es Hamburg ist. Und wer denkt schon an Rente, Lebensversicherung oder das, was Marie Kondo noch nicht weggeräumt hat, wenn man dafür ganz viel ganz schnell oberflächlich parlieren kann, immer wieder neue Freundinnen findet und Beziehungen so schnell abgelegt werden wie eine Karte beim Poker?

AUTORIN Man nimmt das Schlimmste an, schlägt man das Buch Fünf Wörter für Sehnsucht der Journalistin Sarah Levy auf. 1985 geboren, wuchs sie in einer liberalen jüdischen Familie in Frankfurt am Main auf, besuchte eine jüdische Grundschule, dann ein nicht konfessionell gebundenes Gymnasium, studierte in Mainz Amerikanistik – sie hatte bereits während der Schulzeit ein Jahr in den USA gelebt – und Publizistik, war als Producerin für Fernsehsender tätig, arbeitete für eine Lokalzeitung in Mannheim, absolvierte eine namhafte Journalistenschule in Hamburg. Und schrieb seit 2014 von Hamburg aus unter anderem für die Wochenzeitung »Die Zeit«, vor allem Porträts und Interviews für das Ressort »Z«, das sich eigenen Worten zufolge dem »Entdecken« und »intelligenter Unterhaltung« widmet. Jetzt also ein Buch über Israel.

Bis zu ihrer Alija war Sarah Levy bereits fast drei Dutzend Mal nach Israel gereist.

Solche Elaborate kennt man. Besonders oft stammen sie von für eine sehr überschaubare Zeit nach Israel deputierten TV- oder Zeitungskorrespondenten, die, finanziell gut bestallt wie sorgenfrei dem normalen Alltag der Bevölkerung enthoben, Streiflichter rapportieren. Meistens erleben sie das Land nicht, weil es nur politisch und monoman medial wahrgenommen wird, strikt durch die Medien hindurch also.

Und dies alles bereiten sie dann für ihr jeweiliges Medium auf, in der Regel mittels lokaler »Stringer«, orts- wie sprachkundiger Mittelsmänner. Auch freischwebende Reporter, die sich als Schriftsteller fühlen, reisen nur kurz durch die Region. Das langt ihnen, um hier etwas Pittoreskes aufzuspießen, dort eine merkwürdige bis symbolhaft stilisierte Begegnung in Buchform zu überführen. Ohne, ach ja, Hebräisch zu sprechen oder zu verstehen.

ALIJA Sarah Levy aus deutsch-jüdischer Familie aber machte 2019 Alija. Mit wenig Gepäck, darunter ein »Vileda«-Wischmopp, den sie extra aus Deutschland mitbrachte – um ihn gleich am Flughafen einer neugierigen Zollbeamtin vorzuführen, die sich verdutzt den Kopf zerbrochen hatte, was denn das für eine Gerätschaft sei.

Levy schreibt nicht als Feldforscherin, sondern als jemand, der sich niederlässt, für immer.

Bis zu jenem Jahr war Levy bereits fast drei Dutzend Mal nach Israel gereist, in die Ferien, zu Verwandtenbesuchen. Seit 2017 hatte sie realisiert, dass ihre immer länger werdenden Aufenthalte sie heimisch werden ließen, heimisch in dem Sinne, dass sie sich unter der Sonne Tel Avivs lebendiger fühlte, schrägere und herzlichere Freunde fand und hatte als im regenaffinen Hamburg.

Also Alija mit Haut und Haar und Wischmopp – auch wenn die Eltern und ihre Schwester dies äußerst kritisch betrachteten. Dabei spielte sich die Familiengeschichte seit drei Generationen zwischen Deutschland und Israel ab. Ihr Urgroßvater war 1935 nach Britisch-Palästina entkommen, ihr Großvater als Einziger der nicht kleinen Familie dann 1950 in die Bundesrepublik remigriert, rechnete er sich dort doch größeren ökonomischen Erfolg aus, der auch eintrat.

Natürlich hat Levy, die Journalistin, im Gegensatz zu anderen Berufsgruppen ein großes Plus: die inzwischen allgegenwärtig aktivierbaren digitalen Möglichkeiten des Schreibens und Interviewens, die sie ortsunabhängig machen.

LIEBESERKLÄRUNG Spätestens auf der Hälfte des bis dahin immer wieder in einen Plapperstil verfallenden Bandes inklusive ausgiebig postadoleszenten Zeitvertreibs ist allerdings zu konstatieren: Dies ist ein gutes, dies ist ein ausnehmend lesenswertes Buch. Nicht nur, weil es eine Liebeserklärung an Israel ist.

Nicht nur, weil es den psychosozial-emotionalen Prozess des Ankommens nachzeichnet; dies ist recht eigentlich jener Part, der mit am wenigsten interessiert, da er einer Art Konfessions-Gonzo-Journalismus gleicht. Sondern aus anderen Gründen. Levy beschreibt Alltag und Alltagsleben nicht als kühle Feldforscherin oder als Touristin auf Zeit, sondern als jemand, der sich in Jaffa niedergelassen hat, für immer.

Der Vileda-Wischmopp erwies sich als Fehlbesetzung bei der Wohnungsreinigung.


Sie lebt dort, sie lässt sich auf alles ein und schreibt alles differenziert und lebendig auf. Sie lernt die Familie des Freundes kennen, Koch-, Ess- und Kommunikationsverhalten, die so reichhaltige wie abwechslungssatte Schönheit der Landschaft. Sie plaudert mit den Nachbarn, darunter auch arabischen. Oder zumindest versucht sie es, was selbstredend in den ersten Monaten schwierig ist, da ihr Hebräisch lehrbuchsattelfest ist, aber eben nicht mehr.

VERÄNDERUNGEN Sie kauft auf Märkten ein, lässt sich zu Geheimtipp-Bars schleppen, schildert mühselige Wohnungssuche (in Tel Aviv!), erlebt Raketenalarm und Raketenbeschuss, kann über Monate hinweg gesellschaftliche Veränderungen en miniature in ihrem Wohnquartier detektieren. Nach langer Zeit trifft sie Freunde wieder, Lebenskünstler, bei denen sie zu Beginn des Buches für einen Urlaub untergekommen war, und kann so nachzeichnen, wie sich ein Stadtteil in knapp vier Jahren verändert. Und das Leben der Menschen infolgedessen mit – halb unfreiwillig, halb freiwillig, weil geheiratet wird, Familien gegründet werden und man mehr als nur theoretisch überlegt, aufs Land zu ziehen.

Der Vileda-Wischmopp übrigens erwies sich als teutonische Fehlbesetzung bei der Wohnungsreinigung. Er kam mit dem steinernen Boden gar nicht zurecht, ja hinterließ Schlieren und Spuren. So schwenkte Sarah Levy auf die israelische Methode um, den gesamten Boden großzügig zu fluten und mit einem Schieber alles in einem Abflussloch verschwinden zu lassen.

Sarah Levy: Fünf Wörter für Sehnsucht. Von einer Reise nach Israel und zu mir selbst. Rowohlt Polaris Verlag, Hamburg 2022, 368 Seiten, 17 €

Bonn

Beethoven-Haus zeigt Ausstellung zu Leonard Bernstein

Die lebenslange Beschäftigung des Ausnahmetalents mit Beethoven wird dokumentiert

 25.04.2024

Potsdam

Chronist der neuen Weiblichkeit

Das Museum Barberini zeigt Modiglianis Menschenbilder in neuem Licht

von Sigrid Hoff  25.04.2024

München

Ausstellung zeigt Münchner Juden im Porträt

Bilder von Franz von Lenbach und anderen sind zu sehen

 25.04.2024

Wien

Spätwerk von Gustav Klimt für 30 Millionen Euro versteigert

Der Künstler malte das »Bildnis Fräulein Lieser« kurz vor seinem Tod

 25.04.2024

Los Angeles

Barbra Streisand: Lovesong als Zeichen gegen Antisemitismus

Für die Serie »The Tattooist of Auschwitz« singt sie das Lied »Love Will Survive«

 25.04.2024

Kommentar

AfD in Talkshows: So jedenfalls nicht!

Die jüngsten Auftritte von AfD-Spitzenpolitikern in bekannten Talk-Formaten zeigen: Deutsche Medien haben im Umgang mit der Rechtsaußen-Partei noch viel zu lernen. Tiefpunkt war das Interview mit Maximilian Krah bei »Jung & Naiv«

von Joshua Schultheis  24.04.2024

Meinung

Der Fall Samir

Antisemitische Verschwörungen, Holocaust-Relativierung, Täter-Opfer-Umkehr: Der Schweizer Regisseur möchte öffentlich über seine wirren Thesen diskutieren. Doch bei Menschenhass hört der Dialog auf

von Philipp Peyman Engel  22.04.2024

Essay

Was der Satz »Nächstes Jahr in Jerusalem« bedeutet

Eine Erklärung von Alfred Bodenheimer

von Alfred Bodenheimer  22.04.2024

Sehen!

Moses als Netflix-Hit

Das »ins­pirierende« Dokudrama ist so übertrieben, dass es unabsichtlich lustig wird

von Sophie Albers Ben Chamo  22.04.2024