Kulturgeschichte

Ahasver und kein Ende

»Der wandernde Jude (Wanderer im Gebirge)« von Felix Nussbaum (1939, Öl auf Leinwand) Foto: picture alliance / akg-images

Wenn wir den Antisemiten in den sozialen Medien des 21. Jahrhunderts trauen würden, und das gilt erst recht für die Zeit nach dem 7. Oktober 2023, dann wäre der »Ewige Jude« wohl seit Urzeiten ein Kapitalist, Kolonialist oder beides zusammen. Aber dieses Klischee wäre lediglich der »Ewige Jude« der neuen Rechten sowie der neuen, antikolonialen Linken, also angefangen von Viktor Orbán bis hin zu Greta Thunberg. In beiden Lagen gelten »Wall Street« und »Zionismus« als Chiffren für »den« Juden, der als reicher Verschwörer, Ausbeuter und Unterdrücker von armen Christenmenschen und neuerdings auch von Muslimen in aller Welt aktiv ist.

Das ist aber ein spezifisch moderner Antisemitismus, wie er seit dem Ende des 19. Jahrhunderts entstanden ist. Denn dieser setzt schon rein historisch die Entstehung von Kolonialismus und Kapitalismus voraus. Dagegen ist der Mythos von Ahasver, dem stereotypen »Ewigen Juden«, vormodern und damit auch wesentlich älter. Denn entstanden und in antijüdisch gesinnten, christlichen Kreisen wirkungsmächtig wurde dieser in der Frühen Neuzeit.

So erschien im Jahr 1602 in der sächsischen Stadt Bautzen eine anonyme volkstümliche Erzählung über einen »Juden mit Namen Ahasverus«. Diese schildert ihn als einen jüdischen Schuster in Jerusalem, der Jesus auf dem Kreuzweg die Hilfe verweigert, der Kreuzigung tatenlos beiwohnt und seitdem zur Strafe dafür ruhelos durch die Welt und die Jahrhunderte wandern muss, ohne je sterben zu dürfen.

Ahasver begleitet wie ein dunkler Schatten die christliche Geschichte Europas, ohne dass die Christen ihn – und damit das Judentum – jemals loswerden könnten

Quasi als Sinnbild für das wegen »Gottesmord«, Verstocktheit und seines Unglaubens zu Recht mit Elend und Exil bestrafte und aus Jerusalem vertriebene jüdische Volk, wird Ahasver in diesen frühneuzeitlichen christlichen Schriften des 17. Jahrhunderts zum zugleich unerlösten und unsterblichen »Ewigen Juden«. Er begleitet wie ein dunkler Schatten die christliche Geschichte Europas, ohne dass die Christen ihn – und damit sinnbildlich das Judentum – jemals loswerden könnten. Der elende, ruhelose und unberechenbar auftauchende jüdische Wanderer mutiert zum Mythos und zur Hassfigur des christlichen Anti­judaismus.

Zwar kritisiert die deutsche Aufklärung des 18. Jahrhunderts schließlich die historische Unglaubwürdigkeit dieses Mythos, transportiert aber noch in der Kritik das judenfeindliche Narrativ weiter. In der Romantik dann wird der »Ewige Jude« zu einer europäischen Figur: Bei Schriftstellern wie Percy Shelley und Lord Byron, Gérard de Nerval und Edgar Quinet, bei Adelbert von Chamisso, Achim von Arnim, Clemens Brentano und Wilhelm Müller steht Ahasver für Außenseitertum und Weltschmerz. Ludwig Börne und Heinrich Heine sind die ersten jüdischen Autoren, die sich den Ahasver-Mythos positiv aneignen: »Wie tief begründet ist doch der Mythos des ewigen Juden«, schreibt Heine.

Börne und Heine sind die ersten jüdischen Autoren, die sich des Themas bemächtigen.

Der Antisemit Richard Wagner holt sich wiederum vom Juden Heine die Figur des »Fliegenden Holländers« als »Ahasver des Ozeans«. Gegen Wagner und die Antisemiten der literarischen Bewegung des »Jungen Deutschland« wie Karl Gutzkow gerichtet, rehabilitiert schließlich der Historiker Heinrich Graetz den »Ewigen Juden«, und zwar als Sinnbild des rabbinischen Judentums, das alle Vertreibungen überlebt und trotz des Elends im Exil die Flamme des ethischen Monotheismus von der Antike bis in die Gegenwart weiter unter die Völker trägt.

Anders als die Vertreter einer solchen jüdischen Geschichtstheologie möchten die Zionisten dem immer vertriebenen und ruhelos wandernden »Ewigen Juden« gerne eine irdische Heimat in Zion verschaffen, wo er sich niederlassen und endlich zur Ruhe kommen kann.

Heimholung und Umdeutung Ahasvers durch die Zionisten blieb innerjüdisch nicht unwidersprochen

Zionistische Vordenker wie Leo Pinsker, Nathan Birnbaum und Theodor Herzl, aber auch die Maler Samuel Hirszenberg und Ephraim Moses Lilien verarbeiten den Ahasver-Mythos und setzen dem antisemitischen Klischee des wurzellosen Juden die Rückkehr »des« Juden in die angestammte Heimat Zion entgegen: Bei Lilien schaut Ahasver als wegemüder Wanderer übers orientalisierend verklärte Zion ins Abendrot.

Diese Heimholung und Umdeutung Ahasvers durch die Zionisten blieb allerdings innerjüdisch nicht unwidersprochen. Ahasver als unbehauster »Ewiger Jude« war auch für die deutsch-jüdische Literatur zwischen den Weltkriegen ein poetisches Faszinosum – allen voran bei Karl Wolfskehl, Ernst Toller und Jakob Wassermann.

Nach der Schoa schließlich taucht er in der Lyrik von Nelly Sachs und Paul Celan wieder auf, dann wunderbar verspielt im DDR-kritischen Ahasver-Roman von Stefan Heym, wo Ahasver das Institut für wissenschaftlichen Atheismus in Ost-Berlin beunruhigt, und in der Gegenwartsliteratur bei den Autoren Doron Rabinovici und Max Czollek. Die deutsch-jüdische Literatur des 20. und des frühen 21. Jahrhunderts arbeitet sich also weiter an der Ahasver-Figur ab.

Die deutsch-jüdische Literatur des 20. und des frühen 21. Jahrhunderts arbeitet sich weiter an der Ahasver-Figur ab

Einen Überblick über diese »Arbeit am Mythos« – so der Philosoph Hans Blumenberg – seit ihren Anfängen verdanken wir dem Literaturwissenschaftler Gunnar Och und seiner im Wallstein Verlag erschienenen Studie Ahasver, der Ewige Jude. Geschichte eines Mythos. Och dokumentiert, analysiert und interpretiert die verschlungenen Wege Ahasvers von einer antijüdischen Erzählung aus dem Jahr 1602 bis in die jüdische Literatur der Gegenwart mit meisterhafter Präzision und souverän gebändigter Detailfülle. Er legt den Lesern ein Magnum opus vor, wie es nur jemand zu schreiben vermag, der sich jahrzehntelang intensiv mit deutsch-jüdischer Literatur befasst hat und deren Autoren bis hin in ihre Briefwechsel und Zeitungsartikel kennt.

Ein Anspruch auf Vollständigkeit wird dabei keinesfalls erhoben, aber erfüllt: die komplette deutschsprachige Kulturgeschichte des Ahasver-Mythos auf 300 Seiten komprimiert, reich bebildert und immer spannend zu lesen. So wird dem Leser die Arbeit am Mythos leicht gemacht: Dieser Ahasver lebt. Und ginge es nach den postkolonialen Antisemiten, würde Ahasver sowieso wieder auf die Reise geschickt. Besser noch ein ewiger Jude im Exil als ein ewiger Zionist, der nach Hause gefunden hat.

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