Sprachgeschichte(n)

Aderlass im Adar

Ob bei Personen oder Sachen – wenn von einem Weg- oder Rückgang die Rede ist, greifen Journalisten gern auf die Metapher vom »Aderlass« zurück. Die Rheinische Post schrieb vom »Aderlass der CDU«, als zum wiederholten Male ein Ministerpräsident sein Amt aufgab; die Frankfurter Rundschau thematisierte den Bevölkerungsschwund in der Ex-DDR als »Aderlass im Osten«. Als ärztliche Honorarzuwächse gekürzt wurden, titelte die Süddeutsche Zeitung »Röslers großer Aderlass«. (Damit kein Leser glaubte, der Politiker selbst würde zur Ader gelassen, stellte das Blatt weiter unten klar: »Gesundheitsminister lässt die Ärzte bluten.«) Die taz-Überschrift »Aderlass nach dem Auftrittsverbot« über jüdische Künstler, die die Unterhaltungskultur der Weimarer Republikjahre prägten, war leider wörtlich zu verstehen.

Der veritable, nicht metaphorische Aderlass wird heute als Therapie nur noch bei Naturheilverfahren verwendet und ansonsten eher dem Aberglauben zugerechnet. In der Antike und im Mittelalter aber war die »Entlassung des Blutes« ein Kernverfahren der Medizin. Molière, Goethe, Schiller und Gottfried Keller kannten es. »Ganz gewiss hat kein anderes Heilmittel eine so lange und hervorragende Rolle gespielt«, schrieb 1870 der Münchener Arzt Josef Bauer in seiner Schrift Geschichte der Aderlässe.

frühjahrskur In der Sprache allerdings hat der Begriff schon lange negative Konnotationen. Wer andere schröpft, sie bluten oder zur Ader lässt, raubt sie aus. So wird die Alltagswendung schon seit 1900 benutzt. Adern sind nur dann neutral bis positiv besetzt, wenn Goldadern oder Neigungen gemeint sind. In seiner poetischen Ader attestiert Theodor Fontane in der Novelle Oceane von Parceval einem Privatdozenten, der so viel Edda gelesen hat, dass er in Alliterationen spricht, »eine humoristische Ader«. Abraham Tendlau kommentiert in seiner Sammlung jüdischer Redensarten 1860 den Spruch »Es is kaan jüdische Ader an ’m«: »So hieß es wohl im Allgemeinen in Bezug auf jüdisch-religiösen Sinn, als auch im Besonderen in Bezug auf Barmherzigkeit und Wohltätigkeit, da der Jude, und wohl nicht mit Unrecht, einen besonderen Grad von Mitleid und Barmherzigkeit als charakteristisch sich zuspricht.«

Diese jüdische Ader darf im Prinzip allerdings nicht angezapft werden. »Bei den alten Hebräern«, wusste 1954 der Medizinhistoriker Arturo Castiglioni, »ist der Aderlass unbekannt, weil das Blut heilig ist, gemäß dem Doppelsinn des hebräischen Wortes kadosh.« Dass die Nachkommen der besagten Hebräer sich jedoch an diese, wie an viele andere alte Regeln nicht mehr hielten, belegt das jiddische Sprichwort »Rosch chojdesch áder (im ersten Adár) lesst man sich zur ader«. Diesen 1907 in Ignaz Bernsteins Sammlung aufgeführten Leitsatz hat Ingeborg-Liane Schack in ihrem Werk Der Mensch tracht un Got lacht (1977) so erklärt: »Man kann diesen medizinischen Eingriff als Frühjahrskur auffassen und zugleich magisch deuten, denn der Adár ist der Geburtsmonat des Mose und gilt als Glücksmonat.«

Christoph Gutknecht ist Autor des Buchs »Lauter böhmische Dörfer: Wie die Wörter zu ihrer Bedeutung kamen« (C. H. Beck 2009).

27. Januar

Der unbekannte Held von Auschwitz

Der »Berufsverbrecher« Otto Küsel rettete Hunderten das Leben. In Polen ist er ein Held, in Deutschland fast unbekannt. Das will Sebastian Christ mit einem Buch ändern, für das er 20 Jahre lang recherchiert hat

 24.01.2025

Kino

Hoffnung auf mehr »Harry und Sally«

Möglicherweise kehren Meg Ryan und Billy Crystal als Harry und Sally zurück. Zumindest sorgt ein Social-Media-Post derzeit für Glücksgefühle

von Sophie Albers Ben Chamo  24.01.2025

Medien

Michel Friedman ist neuer Herausgeber des »Aufbau«

Die Zeitschrift »Aufbau« erfindet sich mal wieder neu. Diesmal soll Michel Friedman das 90 Jahre alte Blatt modernisieren. Der Journalist und Autor hat viel vor

von Sophie Albers Ben Chamo  23.01.2025

Oscars

»Der Brutalist« und »A Complete Unknown« nominiert

Adrien Brody und Timothée Chalamet sind auch als »Beste Hauptdarsteller« nominiert

 23.01.2025

Kulturkolumne

Sprachnachrichten als Zeitzeugnisse

WhatsApps auf Jiddisch von Regina Steinitz aus Israel

von Maria Ossowski  23.01.2025

Kino

»The Brutalist« - Packendes Filmepos über die Gegenwart der Vergangenheit

In 70mm gedrehtes herausragendes Filmepos über einen dem Holocaust entronnenen Architekten, der in den USA mit einem gigantischen Bauwerk seinen Traumata zu entkommen hofft

von Rüdiger Suchsland  23.01.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Katrin Richter  23.01.2025

Lebensmelodien

Musik ist die beste Rache

Am 27. Januar erinnert die UN-Vollversammlung mit Werken verfolgter jüdischer Komponisten an die Schoa – das Projekt entstand in Berlin-Schöneberg

von Ayala Goldmann  23.01.2025

Mel Gibson

»Make Hollywood Great Again«

US-Präsident Donald Trump hat den Regisseur und Schauspieler zu seinem »Sonderbotschafter« ernannt – zusammen mit Sylvester Stallone und Ron Voigt

von Sophie Albers Ben Chamo  23.01.2025