Der heftigste Satz steht im Vorwort. »Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden«, schreibt Karl Kraus. »Die grellsten Erfindungen sind Zitate.« Ja, der österreichische Autor hat für »Die letzten Tage der Menschheit« dem Volk aufs Maul geschaut. So ist eine Collage des Ersten Weltkriegs entstanden – eine Abrechnung in vielen O-Tönen, die anschwellen zum »Choral der unheiligen Handlung«.
Kraus, 1874 in Böhmen in eine jüdische Familie geboren und in Wien zur publizistischen Legende gereift, hat seine Tragödie lange Zeit für unspielbar gehalten: zu viele Szenen (nämlich 220), zu viel Personal (rund 1000 Figuren), zu viele Ortswechsel (200 Schauplätze) – vor allem jedoch zu viel Wahnsinn, der zwar vor-, doch kaum darstellbar ist.
Kraus verstand seine zwischen 1915 und 1917 entstandene, bis heute erschütternde und in ihrer Banalität auch groteske Bestandsaufnahme des Krieges und aller Beteiligter als Lesedrama. Teile des Textes erschienen in der von Kraus in Personalunion als Chefredakteur, Herausgeber, Verleger und (ab 1912) einzigem Autor erstellten Zeitschrift »Die Fackel«; die erste Buchausgabe kam nach Aufhebung der Zensur 1922 heraus. Sollte es je im Original inszeniert werden, ging der Autor davon aus, dass dies nicht unter zehn Abenden zu schaffen sei.
»Die letzten Tage der Menschheit« erzählt von der Gegenwart
Dušan David Pařízek braucht bei den Salzburger Festspielen drei Stunden und 15 Minuten. Die heftig beklatschte Premiere wurde auf der Pernerinsel in Hallein gefeiert. Der Regisseur, 1971 in Brünn geboren, bleibt in seiner Fassung zwar ganz beim Original, doch hat er ordentlich gekürzt und eine eigene Dramaturgie entwickelt. Vor allem aber hat er das Personal auf sieben Figuren reduziert, die freilich auch Texte anderer Charaktere sprechen. So gelingen Pařízek und seinem hoch engagierten Ensemble eine atmosphärische Dichte und Dringlichkeit, die überzeugen.
»Die letzten Tage der Menschheit« erzählt von der Gegenwart, ohne sich dieser anzubiedern. Tatsächlich ist ein Pflaster in den ukrainischen Farben Blau und Gelb am Mittelfinger der Schauspielerin Dörte Lyssewski in einer Szene, in der es um Russland geht, einer der wenigen offensichtlichen Verweise auf den Krieg in Europa. Die Aktualität ergibt sich aus dem Drama, denn Kraus ist es gelungen, zeitlose Wahrheiten in scheinbar simplen Dialogen zu offenbaren.
Da ist etwa Michael Maertens, der sich als deutscher Diplomat aalglatt durchs Kriegstreiben zu lavieren hofft. Sein Sigmund Schwarz-Gelber spielt munter auf der Klaviatur der Propaganda – und ist doch nur ein Popanz. Seine Gattin (Lyssewski), die ihre Patriotinnen-Rolle überzeugend brutal annimmt, hat das erkannt. Auch Kriegsreporterin Schalek, die der Herr Politiker so fesch findet, lässt keinen Zweifel daran, dass sie nur aufs Blut der Feinde steht. Übrigens: Die österreichische Journalistin war die einzige zugelassene Berichterstatterin im Ersten Weltkrieg.
Kraus selbst hat sich in der Rolle des Nörglers porträtiert, den Elisa Plüss mit Furor und Empathie ausstattet. Einmal umarmt sie Vinzenz Chramosta – Branko Samarovski hat den Wiener gerade noch als knurrigen Kriegsbefürworter gezeigt. Jetzt hat Chramosta erfahren, dass sein Sohn eingezogen wird. Und der Vater, einst breitbeiniger Lautsprecher (»Es genügt nicht, wenn man nur seine Pflicht erfüllt!«), weiß keinen Ausweg. Da umfängt der Nörgler ihn mit seinen Armen, gibt Sicherheit und Halt in einem Moment, der weder das eine noch das andere kennt. Es ist die stillste, stärkste Szene dieses Theaterabends.