Schweiz

Zwischen Staat und Flüchtling

Zürich Hauptbahnhof. Der Eurocity aus Mailand fährt ein. Eine afrikanische Familie steigt aus, sie will in der Schweiz Asyl beantragen. Die meisten Menschen, die in der Schweiz Schutz suchen, kommen mit dem Zug aus Deutschland oder Italien. Einige Tage nach der Ankunft werden die Neuankömmlinge von einem staatlichen Repräsentanten, auch Fachspezialist genannt, nach ihren Fluchtgründen befragt. Nach Schweizer Recht ist bei diesen Befragungen auch der Vertreter eines Hilfswerks mit dabei. Für alle, die über den Zürcher Flughafen einreisen, ist es ein Mitarbeiter des Verbands Jüdischer Fürsorgen der Schweiz (VSJF).

Der Verband ist seit vielen Jahren ein anerkannter Partner im Flüchtlingswesen. »Dies geht zurück auf die Zeit des Zweiten Weltkriegs«, erklärt VSJF-Präsidentin Gabrielle Rosenstein. Damals musste der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) finanziell für die jüdischen Flüchtlinge aufkommen und sich verpflichten, sich für ihre Weiterreise einzusetzen, soweit dies überhaupt möglich war.

Tradition Aus der damaligen Zusammenarbeit mit wohlgesinnten kirchlichen Kreisen entstand die Schweizerische Flüchtlingshilfe. Der VSJF, formell ein unabhängiger Verband, auch wenn er unter dem Dach des SIG steht, ist bis heute Mitglied der Flüchtlingshilfe und fühlt sich als Teil der gemeinsamen humanitären Tradition der Schweiz.

Dieses Engagement hat ganz praktische Auswirkungen: »Zurzeit beschäftigen wir 50 Mitarbeiter, die als Hilfswerksvertreter bei den Befragungen der Asylsuchenden in Zürich und Bern dabei sind«, berichtet Diana Rüegg, Asylbereichsleiterin beim VSJF. Allerdings seien das alles Teilzeitstellen, in der Regel zwischen 20 und 40 Prozent. Es seien vor allem Studenten, die hier eingesetzt würden. Wichtig sei juristisches Wissen, aber auch auf eine hohe Sozialkompetenz komme es an.

Rüegg weiß, wovon sie spricht: Sie selbst hat Völkerrecht studiert und während ihres Studiums Befragungen für den VSJF begleitet. »Unsere Aufgabe ist es, sicherzustellen, dass die Flüchtlinge ein faires Verfahren erhalten«, betont Rüegg. Damit möchte sie nicht sagen, dass die Behörden die Flüchtlinge nicht fair behandeln, aber Vertreter der Hilfswerke hätten eben oft eine etwas andere Perspektive. Die sei nötig, um eine Fluchtgeschichte fair zu beurteilen, meint die Zürcherin. Wichtig sei, dass man sich zu den Grundwerten der Schweizer Asylpolitik bekenne. Dazu gehöre unter anderem die Akzeptanz der Genfer Konvention, sagt Diana Rüegg.

Ein Problem stellt sich gelegentlich bei der Infrastruktur der gemeinsamen Flüchtlingsbefragungen. Denn einer der Partner des VSJF auf christlicher Seite ist das Hilfswerk der Evangelischen Kirchen (Heks), in der Schweiz bekannt für seine einseitige Israelkritik. So gratulierte das Heks dem Discounter Migros vor drei Jahren in einer ganzseitigen Anzeige in der Tagespresse, als dieser Produkte aus dem Westjordanland speziell kennzeichnete – eine Maßnahme, die inzwischen auch von der EU übernommen wurde. »Wir vom SIG hatten damals eine heftige Auseinandersetzung mit diesem Hilfswerk«, sagt Gabrielle Rosenstein. In der gemeinsamen Flüchtlingsarbeit werde dieser Streit aber ausgeklammert – ganz im Interesse der Sache.

Finanzen Auf die Finanzen des VSJF wirkt sich die Flüchtlingsarbeit nicht negativ aus. Das Engagement ist kostendeckend, denn der Schweizer Staat bezahlt die Hilfswerke für die Befragungen, da es sich hier um einen gesetzlichen Auftrag handelt.

Im Gegensatz zur Flüchtlingswelle Anfang und Mitte der 90er-Jahre, als während des Kriegs in Jugoslawien auch einige Juden an die Tore der Schweiz klopften, sind heute die meisten Schutzsuchenden Muslime, nicht selten kommen sie aus den syrischen Bürgerkriegsgebieten.

Kann das nicht problematisch sein und zu Konflikten führen, wenn sie auf Befrager treffen, die eine jüdische Organisation vertreten? »Nein«, sagt Diana Rüegg. Zum einen werde nicht bekannt gegeben, wer welches Hilfswerk vertrete. Und zum anderen würden alle beteiligten Organisationen und Verbände gemeinsame Werte vertreten, an denen nicht gerüttelt werden könne. So kann ein Gesuchsteller ohne besonderen Grund auch nicht wählen, ob er in der Anhörung von einem weiblichen oder männlichen Hilfswerkvertreter begleitet wird. Er kann allerdings auf die Anwesenheit der Hilfswerkvertretung auch ganz verzichten.

Und wo positioniert sich der VSJF in der Frage, ob es unter den Flüchtlingen nicht auch islamische Extremisten geben könnte? Anders als in Deutschland verläuft diese Diskussion in der Schweiz bislang eher diskret – auch wenn man gelegentlich Berichte über IS-Kämpfer aus der Schweiz hört.

Islamisten »Ängste davor, dass sich unter den Flüchtlingen Islamisten befinden könnten, gibt es natürlich auch bei uns«, bestätigt Diana Rüegg. Allerdings sei die Diskussion schon allein deshalb nicht mit derjenigen in vielen anderen Ländern zu vergleichen, weil die Flüchtlingszahlen zwischen Zürich und Genf nach wie vor sehr niedrig sind. Anders als Deutschland ist die Schweiz auch Anfang 2016 kein Land, in das Woche für Woche Tausende Flüchtlinge kommen. Und derzeit deutet nichts darauf hin, dass sich dieser Zustand in naher Zukunft ändern wird.

Trotzdem oder erst recht: »Wichtig ist, dass die Integration derjenigen Flüchtlinge gelingt, die zu uns kommen«, betont Rüegg. Und diese Integration beginne schon in den ersten Tagen – vielleicht sogar in den ersten Stunden.

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