Großbritannien

Zwischen Covid und Brexit

Wenn das alte Jahr zu Ende geht, ist es Zeit, zurückzublicken und Bilanz zu ziehen über die vergangenen Monate. Diesmal jedoch, das merken die meisten, war vieles ganz anders als in den Jahren zuvor.

»Ich bin seit einigen Monaten wieder so aktiv wie damals, als ich Student war und noch auf Demos ging«, sagt Omar Portillo. Auslöser für das Comeback des 39-Jährigen als Aktivist waren die Black-Lives-Matter-Proteste.

gefahr »Als ich sah, dass viele Menschen trotz der Gefahr, sich mit dem Covid-19-Virus anzustecken, dennoch auf die Straße gingen und letztendlich auch der britisch-jüdische Dachverband Board of Deputies eine Untersuchungskommission zur Situation von Juden mit dunkler Hautfarbe aufstellte, wollte ich unbedingt etwas aufbauen«, erzählt Portillo.


Im April lag die Sterberate unter britischen Juden 2,5-mal höher als im Landesdurchschnitt.

Seit einigen Monaten ist der in Honduras geborene und in der New Yorker Bronx aufgewachsene Sozialarbeiter und Webentwickler Vorsitzender einer neu gegründeten Gruppe des britischen Verbands liberaler jüdischer Gemeinden. Sie soll Erfahrungen und Fragen der Diskriminierung gegenüber schwarzen Juden darlegen und Wege zur besseren Inklusion finden. Mithilfe von »Zoom«-Konferenzen verknüpften sich dabei Interessierte und Betroffene aus ganz Großbritannien.

Einer der Pläne für das nächste Jahr sei es, einen Bericht mit Empfehlungen herauszugeben, sagt Portillo. Sein Wunsch für das nächste Jahr: »Ich wünsche mir, dass es keine weiteren Opfer wie George Floyd mehr gibt.«

KLIMAWANDEL Auch Debbie Young-Somers, 40, war im vergangenen Jahr Aktivistin. Zumindest für kurze Zeit. Während des Sukkotfestes stand die Rabbinerin der Reformgemeinde Hendon und Edgware der jüdischen Anti-Klimawandel-Gruppe von Extinction Rebellion, XR-Jews, zur Seite. Doch spätestens, als sie im April, mitten im Lockdown, ihr Amt als Rabbinerin antrat, änderte sich ihr Schwerpunkt. Ihr Vorgänger, Rabbi Neil Kraft, war unmittelbar davor an Covid-19 gestorben.

Im selben Monat starben in ihrer Gemeinde weitere 27 Mitglieder – mehr als dreimal so viele wie sonst im gleichen Zeitraum. Die Sterberate in der britisch-jüdischen Gemeinschaft lag in diesen Wochen rund 2,5-mal höher als beim nationalen Durchschnitt.

Wie viele andere musste sich in dieser Zeit auch Debbie Young-Somers allmählich mit Zoom-Konferenzen anfreunden. »Obwohl ich eine Reformrabbinerin bin, habe ich diese Technik beispielsweise noch nie am Schabbat angewandt«, sagt sie.

Statt von zu Hause, wie noch zu Beginn der Pandemie, werden die Zoom-Gottesdienste aber inzwischen aus der Synagoge übertragen, die allerdings fast leer ist. Dies sei auch für die kommenden Festtage so geplant, denn es sei einfach zu schwierig, unter 3000 Gemeindemitgliedern einzelne auszusuchen, die in die Synagoge kommen dürften. Wer Debbie Young-Somers fragt, welche Wünsche sie für das nächste Jahr hat, dem antwortet sie, ohne lange zu überlegen: »Ein baldiges Ende der Pandemie«.

Antisemitismus Auch Margaret Hodge wünscht sich ein baldiges Ende – aber von etwas anderem, etwas, das, wie sie sagt, im zu Ende gehenden Jahr vielen in der jüdischen Gemeinschaft große Sorgen bereitet habe.

»Zuerst mussten wir zusehen, wie die Labour-Partei immer tiefer in die Antisemitismuskrise rutschte, und dann – mit großer Erleichterung für uns –, unter der neuen Führung von Keir Starmers endlich den langen Weg zum Ausmerzen des Antisemitismus in den eigenen Reihen antrat«, so die 76-jährige jüdische Parlamentsabgeordnete.

Hinsichtlich des bevorstehenden Jahres glaubt Hodge, die auch parlamentarisches Vorstandsmitglied der britisch-jüdischen Arbeiterbewegung ist, dass der Antisemitismus für die jüdische Gemeinschaft und die Allgemeinheit weiterhin eine Herausforderung sein wird, denn »politischer Extremismus, polarisierender Populismus und toxische Debatten wachsen in den sozialen Medien weiter«. »Ich persönlich werde jeglichem Antisemitismus entgegentreten, und ich wünsche mir, dass alle öffentlichen Amtsträger genauso furchtlos Stellung beziehen gegen Judenhass und Rassismus«, fordert sie.

EU-Pässe Und was ist mit dem großen politischen Ereignis des Jahres, dem Austritt Großbritanniens aus der EU? Viele jüdische Briten, die selbst oder deren Eltern vom Kontinent stammen, haben sich »zur Sicherheit« darum gekümmert, auch einen EU-Pass zu bekommen. Viele, wie Jacqueline Boronow Danson, 64, die als Kind von deutsch-jüdischen Flüchtlingen adoptiert wurde, hatten bisher keinen rechtlichen Anspruch darauf. Noch vor einigen Jahren teilten ihr die deutschen Behörden mit, sie brauche sich gar nicht erst um einen deutschen Pass zu bewerben.


Gottesdienste sind von den neuen strengen Versammlungsregeln ausgenommen.

Doch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Mai 2020 änderte alles. Der Jüdischen Allgemeinen sagte Boronow Danson, es sei für sie von großer Bedeutung, »gerade in diesem Brexitjahr die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten zu haben und so in der Lage zu sein, ihre europäische Identität beizubehalten«. Es sei ein Hoffnungsschimmer für andere Antragsteller.

Die Hohen Feiertage wird Boronow Danson mit ihrer 96-jährigen Mutter verbringen. Wie viele andere ältere Menschen werden die beiden Frauen zu Hause bleiben, um sich vor dem Virus zu schützen.

gebete Auch andere müssen ihre Gebete dieses Jahr zu Hause sagen, obwohl Gottesdienste von den neuen Regeln, die öffentliche Treffen auf nur sechs Personen beschränken, ausgenommen sind.

Trotzdem werden zahlreiche orthodoxe Synagogen in Großbritannien ihre Gottesdienste an den Hohen Feiertagen mit stark begrenzter Teilnehmerzahl durchführen. So sind dies in der Heaton-Park-Synagoge in Manchester derzeit nur maximal 66 Personen. Für alle anderen Mitglieder gibt es Live-Übertragungen im Internet. »Solange in der Schul ein Minjan ist«, schreibt das Rabbinat, sei das Mitbeten von zu Hause erlaubt. Man solle aber auf eine südöstliche Gebetsrichtung achten – idealerweise in einem Raum ohne große Ablenkungsmöglichkeiten.

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