Von einer Zeit, in der alles noch etwas besser war, berichtet das Buch The Making of »Jew Clubs« von Pavel Brunssen. Darin erklärt der Antisemitismusforscher die Hintergründe, warum nichtjüdische Fußballfans nichtjüdische Fußballvereine als »jüdisch« bezeichnen, um sie damit aufzuwerten.
Ganz konkret zeigt er das an Ajax Amsterdam, Austria Wien und Tottenham Hotspur, aber auch am FC Bayern München – allesamt Vereine, die sich selbst nie als »jüdisch« identifiziert hatten, jedoch immer wieder als solche wahrgenommen wurden. Um zu beantworten, warum das so sein konnte, analysiert Brunssen Fangesänge, Spieltagsrituale und Medienberichte.
Es ist zu hoffen, dass bald eine deutsche Übersetzung vorliegt. Denn deutschsprachigen Lesern begegnen hier Geschichten und Gegenstände, die sie im besten Sinne irritieren dürften: eine Kippa mit dem Wappen von Tottenham Hotspur, ein Banner der Amsterdamer Hooligans »F-Side« mit Israelflagge und Amsterdamer Stadtwappen oder ein »Austria Oida«-Sticker mit Davidstern. Brunssen beleuchtet, wie das Image des »jüdischen Klubs« entstehen konnte.
Erinnerungskultur, kultureller Code und Fan-Performance
In drei Kapiteln skizziert er die Erinnerungskultur, den kulturellen Code und die Fan-Performance als Wegbereiter dieser Identifikation. Im vierten Kapitel wird das Image auch problematisiert. Manche Formen der Identifikationen kamen deshalb zustande, weil Fans antisemitische Anfeindungen subversiv gewendet haben: Sie nahmen die Beleidigung auf und drehten sie performativ, bezeichneten sich fortan selbstbewusst als jüdisch – ohne sich dabei notwendigerweise damit auseinanderzusetzen, was Jüdischsein überhaupt bedeutet.
Mitunter entstand eine solche Identifikation, weil man sich mit vergessenen Funktionären und Spielern des Vereins beschäftigte und deren Geschichte kennenlernen wollte. Beispielsweise waren es die Bayern Ultras, die wieder an den jüdischen Erfolgspräsidenten Kurt Landauer erinnerten. So schafft es Brunssen, differenziert darzulegen, warum nichtjüdische Fans anfangen, ihre Klubs als »Juden« anzufeuern – und wie ambivalent die Reaktionen von Jüdinnen und Juden darauf sein können.
Neben den großen Klubs existieren aber auch die kleinen Vereine, die nicht in den Profi-Ligen unterwegs sind und ebenso von ihren Fans als jüdisch angefeuert werden.
Er verweist in diesem Kontext auf die Regisseurin Nirit Peled, die als 20-Jährige Anfang der 90er Jahre von Israel nach Amsterdam zog. Damals zeigten die Fans von Ajax ihre »jüdische« Performance noch ziemlich offen. So fand sich Peled in einer Tram voller Fans der sogenannten »Super Joden« wieder, die »Hava Nagila« sangen und Israelfahnen schwenkten. Manche hatten sogar einen Davidstern als Tätowierung.
Peled war verunsichert: Hat das alles etwas mit ihr zu tun? Warum tragen diese mehrheitlich nichtjüdischen Fußballfans die Fahnen ihres Heimatlandes? Ähnliches berichtet auch der britisch-jüdische Comedian David Baddiel, der in Deutschland durch seinen Hit »Football’s Coming Home« oder durch seinen Auftritt bei Freitagnacht Jews mit Daniel Donskoy bekannt wurde.
»Tottenham wird als jüdischer Klub angesehen – allein das ist schon antisemitisch«
Dort erzählte Baddiel von einem Stadionerlebnis in London. »Tottenham wird als jüdischer Klub angesehen – allein das ist schon antisemitisch. 95 Prozent der Spieler sind keine Juden. Aber dort wird immer etwas skandiert, ich nenne es das Y-Wort: ›Yid‹. Das machen sie seit Jahren. Ich war also bei meinem Klub Chelsea. Wenn irgendetwas mit Tottenham aufkommt, beginnt die ganze Menge zu rufen: ›Yid‹, ›Yid‹. Das hört sich sehr bedrohlich an. ›Hotspurs nach Auschwitz‹, ›Hitler soll sie vergasen‹. Unglaublich.«
Doch nicht alle Juden nehmen das so wahr. Manche besitzen den »F-Side«-Schal mit Davidstern, die Kippot der Wiener Austria, Bayern München oder Tottenham Hotspur, weil es ihr jüdischer Ausdruck der Liebe zu ihrem Klub ist. Es ist ein schmaler Grat: Einerseits schaffen nichtjüdische Fans durch diese Performance ein Umfeld, in dem auch Juden selbstverständlicher jüdisch sein können. Andererseits kann die Aneignung und das zum Teil damit einhergehende Unverständnis des Judentums gerade auch verstörend auf Juden wirken.
Neben den großen Klubs existieren aber auch die kleinen Vereine, die nicht in den Profi-Ligen unterwegs sind und ebenso von ihren Fans als jüdisch angefeuert werden. Dazu gehören zum Beispiel die »Leutzscher Juden« oder die »Chemie Yid Army« bei der BSG Chemie Leipzig. Diese Form der Aneignung findet in Leipzig aber nicht ohne die zugehörige Reflexion und ein entsprechendes Bildungsprogramm statt. Sie wird also zugleich problematisiert und auf ihre Auswirkungen für Juden hinterfragt. Das ist es, was auch Pavel Brunssens Buch so wertvoll für die Debatte macht: Es vermittelt das nötige Hintergrundwissen.
Pavel Brunssen: »The Making of ›Jew Clubs‹. Performing Jewishness and Antisemitism in European Football and Fan Cultures«. Indiana University Press, Bloomington 2025, 480 S., 38,99 €