Kanada

Wo Duddy Kravitz zur Schule ging

Lionel verzieht den Mund zu einem zahnlosen Grinsen, sein heiseres Lachen hallt in den hohen Fluren wider. Er hätte Mordecai Richlers Mitschüler sein können. Mit 78 Jahren ist er nur drei Jahre jünger, als der weltbekannte jüdisch-kanadische Autor heute wäre. Lionel sitzt dort, wo Richler vor fast sieben Jahrzehnten die Schulbank gedrückt hat: in der Baron Byng High School (4251 Rue St. Urbain). Dort wartet der alte Lionel im Foyer und begrüßt jeden, der das Gebäude betritt.

In der Schule wird schon lange nicht mehr unterrichtet. Seit 30 Jahren hat hier die lokale Hilfsorganisation »Sun Youth« ihren Sitz. Lionel ist einer der freiwilligen Helfer. Fünf Tage die Woche kommt der alte Mann hierher, um Spenden an bedürftige Familien zu verteilen. In den früheren Klassenräumen stapeln sich Kartons mit gebrauchter Kleidung, Haushaltswaren und Plüschtieren.

Dennoch bleibt der Backsteinbau von 1921 eine Schule, die unmittelbar mit der jüdischen Geschichte der Stadt verbunden ist – und durch die Werke Mordecai Richlers weiterlebt. In der »Fletcher’s Field High School«, wie der Autor sie nannte, paukten nicht nur Richler selbst, sondern auch seine Romanhelden Duddy Kravitz, Joshua Shapiro und Jakob Hersch.

Jeschiwa Mordecai Richler wurde am 27. Januar 1931 in Montreal geboren. Sein Großvater, ein jüdischer Gelehrter aus Galizien, war 1904 mit der Familie nach Kanada ausgewandert. Richlers Vater arbeitete als Schrotthändler. Nachdem der junge Mordecai zunächst eine Jeschiwa besucht hatte, hofften seine Eltern, dass aus ihrem Sohn ein Rabbiner werden würde. Mit dem Wechsel zur Baron Byng High School wurde jedoch schnell deutlich, dass Richler ein weltlicheres Leben bevorzugte. Die strenge Observanz, die nicht nur in Richlers Familie, sondern in der gesamten jüdischen Enklave rund um die Rue St. Urbain üblich war, vernachlässigte er zunehmend.

Auf der Hauptstraße des bis in die 50er-Jahre jüdisch geprägten Arbeiterviertels Mile End, in dem Richler aufwuchs, reiht sich noch immer eng gedrungen Haus an Haus. Waghalsig gewundene Treppen führen an den Außenwänden entlang in die oberen Etagen. In seinem Roman Der Traum des Jakob Hersch (Originaltitel: St. Urbain’s Horseman, 1971) setzte der Autor dieser Straße ein literarisches Denkmal. Was heute fehlt, sind die Zigarrenläden, die winzigen Lebensmittelgeschäfte und Lokale, die sich damals an jeder Straßenecke befanden. Stattdessen säumen Yoga-Zentren, Bioläden und hippe Coffeeshops den Weg.

Montreal ist heute mit 1,9 Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt Kanadas und gilt als kulturelle Hauptstadt des Landes. 1976 war sie Austragungsort der einzigen Olympischen Sommerspiele auf kanadischem Boden. 2006 hat die UNESCO Montreal zur »City of Design« ernannt – ein Titel, den sonst nur noch Berlin und Buenos Aires tragen. Zuletzt schaffte es die Stadt in die Schlagzeilen, als im Frühjahr dieses Jahres Hunderttausende Studenten auf die Straße gingen, um gegen eine Erhöhung ihrer Studiengebühren zu demonstrieren. Touristen zieht es besonders in die Altstadt (Vieux-Montreal), deren Charme das einzigartige und gelungene Nebeneinander einer für Nordamerika ungewöhnlich hohen Anzahl historischer Gebäude, gepaart mit modernen Wolkenkratzern, ausmacht.

Boutiquen Zu Richlers Zeiten war es vor allem der Gegensatz zwischen französisch- und englischsprachigen Einwohnern, der die Stadt charakterisierte. Der Boulevard St. Laurent, der parallel zur Rue St. Urbain verläuft, war so etwas wie die natürliche Grenze zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen. Die jüdische Gemeinde lebte genau zwischen ihnen.

Mit viel Ironie und Sprachwitz beschreibt Richler, wie sie zu den »WASPs« (White Anglo-Saxon Protestants) emporblickten und diese teils sogar fürchteten und im Gegenzug die Franzosen als ihre »Shvartzes« betrachteten. Heute sind diese Unterschiede verschwunden. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist bilingual. Der Boulevard St. Laurent ist eine multikulturell geprägte, von Studenten und Künstlern bevölkerte Straße mit Cafés, kleinen Boutiquen und internationalen Restaurants. Die Orte, die noch aus Richlers Kindheit in dem Viertel Mile End existieren, haben inzwischen Museumscharakter.

Ruth Wilensky war elf Jahre alt, als Richler geboren wurde. Heute ist sie 92 – und steht noch immer hinter der Theke des von ihrem Ehemann Moe 1932 eröffneten »Wilensky’s Light Lunch« (34 Fairmount Street West). Hier, nur wenige Schritte von Richlers Elternhaus (5257 Rue St. Urbain) entfernt, ist die Zeit stehen geblieben. Die Softdrinks werden noch immer von Hand mit Sirup und Wasser angerührt, das »Wilensky’s Spezial«-Sandwich kommt noch immer mit Senf und sechs Lagen Wurst.

Dieses mochte der junge Mordecai so gerne, dass er es später auch Duddy Kravitz in den Mund legte. Sogar einige Szenen der Romanverfilmung spielten hier – allerdings mit einer kleinen Änderung. »Tische hat es nie gegeben«, sagt Asher Wilensky, Sohn von Ruth und Moe. »Bei Wilensky’s saß und sitzt man an der Theke. Wir dürfen nichts verändern. Unsere Kunden würden verrücktspielen.«

ehrgeiz Richler war 19, als er Montreal verließ und nach Paris ging. Dort veröffentlichte er seine ersten Essays, zunächst in Literaturmagazinen. Nach zwei Jahren kehrte er noch einmal nach Kanada zurück, bevor er 1954 nach London zog. Mit Die Lehrjahre des Duddy Kravitz gelang ihm 1959 der literarische Durchbruch. Der Roman handelt vom Aufstieg eines ehrgeizigen jungen jüdischen Mannes in Montreal. Von den Kritikern hochgelobt, wurde das Buch zu einem der Klassiker moderner kanadischer Literatur.

Das jüdische Montreal, das Richler in seiner Jugend erlebte und in seinen Büchern verewigte, hat sich stark verändert. 1931, im Geburtsjahr des Autors, lebten rund 50.000 Juden in der Stadt. Etwa die Hälfte von ihnen wohnte in Mile End. »Diese Juden kamen hauptsächlich aus Osteuropa«, sagt Zev Moses, Kurator der Website »Interaktives Museum des jüdischen Montreals« (www.imjm.ca). »Es gab viele Synagogen, jüdische Schulen und Organisationen in der Gegend. Jiddisch war damals in der Stadt die am dritthäufigsten gesprochene Sprache.«

Obwohl jetzt mehr als 90.000 Juden in der Stadt leben und die Gemeinde nach Toronto die zweitgrößte in Kanada ist, muss man im heute multikulturellen Mile End genau hingucken, um Spuren des jüdischen Lebens von damals zu entdecken.

Von der B’nai-Jacob-Synagoge in der Nähe von Richlers Geburtshaus (5300 Avenue de l’Esplanade) ist nur noch der Torbogen mit der hebräischen Inschrift zu sehen. Heute ist der Komplex Teil des Collège Français. Auch das »Shvitz« auf dem Boulevard St. Laurent, in das Richlers »Großvater und seine Kumpanen vor den hohen Feiertagen gingen, wo sie dann hochrot aus dem Dampfraum hervorkamen, um sich voller Freude gegenseitig mit Besen aus Pinienzweigen zu schlagen« (Richler in The Street, 1969) ist ebenso verschwunden wie der traditionsreiche Supermarkt »Warshaw«. Vereinzelt erinnern Gedenktafeln am Straßenrand an die eine oder andere jüdische Einrichtung.

bagel Die jüdischste aller Backwaren der kanadischen Metropole ist jedoch beliebt wie eh und je: der Bagel. Um das Jahr 1910 sollen zwei jüdische Einwanderer den ersten Bagelshop in Mile End eröffnet haben. Heute sind es der St.-Viateur-Bagelshop (263 Rue St.Viateur) und die Fairmount-Bagel-Bäckerei (74 Fairmount Avenue West), die diese Tradition weiterleben lassen und rund um die Uhr Tausende Bagel backen, die in die gesamte Provinz Quebec geliefert werden. Richler mochte die Bagel so gerne, dass er auch Duddy Kravitz und seine Freunde hier regelmäßig vorbeischauen ließ.

Überhaupt sind es die kleinen, von Richler und seinen Romanfiguren besuchten Lokale, die die Erinnerung an den Schriftsteller und das jüdische Leben in Montreal vor gut 60 Jahren wachhalten. So endet die Spurensuche im weltbekannten Schwartz’s Hebrew Montreal Delicatessen (3895 St. Laurent Boulevard), dessen Räucherfleisch-Sandwich Richler in Wie Barney es sieht als »in den Wahnsinn treibendes Aphrodisiakum« beschreibt. Das Fleisch ist so zart, dass es auf der Zunge zergeht. Und so beliebt, dass kürzlich Celine Dion ins Geschäft eingestiegen ist: Die Sängerin ist nun Miteigentümerin von Schwartz’s. Sie ist nur eine von vielen Prominenten, darunter auch Richler, die regelmäßig zu Gast sind oder waren und von deren Besuchen die Fotos an den Wänden zeugen.

Richler kehrte 1972 nach Montreal zurück, wo er bis zu seinem Tod 2001 lebte. Zwar veröffentlichte er in dieser Zeit auch weiter erfolgreich Romane (Joshua, damals und jetzt, 1980; Solomon Gursky war hier, 1989; Wie Barney es sieht, 1997), doch machte er sich besonders in den letzten Jahren seines Schaffens einen Namen als Satiriker und bisweilen bissiger Kommentator des sozialen und politischen Lebens in Kanada.

Kampf So stellte er sich vor allem den aufkeimenden Unabhängigkeitsbestrebungen in Quebec entgegen, was ihn gerade bei französischsprachigen Politikern und Intellektuellen zu einer persona non grata werden ließ. »Im übertragenen Sinne bin ich für das Recht auf die Barrikaden gegangen, dass ich an mehr als 60 Tagen im Jahr nur einsprachig beschriftete, koschere Matzos essen darf. Ich habe dafür gekämpft, dass ein Kanarienvogel auf Englisch singen darf. Und dafür danken mir noch heute Leute auf der Straße«, blickte Richler 1999 augenzwinkernd zurück.

Und so ist es für manche verwunderlich bis ärgerlich, für andere hingegen nur konsequent, dass es abgesehen von einer Bronzetafel gegenüber von Richlers Grab auf dem Friedhof Mont-Royal in Montreal kein Denkmal gibt, das an den berühmten Sohn erinnert. Tatsächlich versuchten im vergangenen Jahr anlässlich des zehnten Todestags des Autors einige Politiker, einen Platz oder eine Straße nach Richler zu benennen, was am Widerstand der französischen Kollegen scheiterte.

Doch jetzt scheint der Streit beigelegt. Ein Pavillon im Park Mont-Royal trägt seit Juli Richlers Namen. Von dort kann man auf Mile End und über die Skyline der Stadt bis zum mächtigen St.-Lorenz-Strom schauen und mit einem Fernglas vielleicht sogar das Dach der Baron Byng High School entdecken. Dort im Foyer, wo vor 70 Jahren der junge Mordecai Richler zu seinem Klassenraum rannte, sitzt heute der alte Lionel und begrüßt jeden Besucher mit seinem freundlichen zahnlosen Grinsen.

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