Ariel Muzicant

»Wir haben ein Megaproblem«

Der Interimspräsident des EJC über den Umgang mit den Folgen des russischen Angriffskriegs und Herausforderungen des Judentums in Europa

von Michael Thaidigsmann  05.05.2022 11:20 Uhr

Der Österreicher Ariel Muzicant (70) wurde nach dem Rücktritt von Moshe Kantor im April zum Chef des jüdischen Dachverbands EJC bestimmt. Foto: EJC

Der Interimspräsident des EJC über den Umgang mit den Folgen des russischen Angriffskriegs und Herausforderungen des Judentums in Europa

von Michael Thaidigsmann  05.05.2022 11:20 Uhr

Herr Muzicant, Sie sind nach dem Rücktritt von Moshe Kantor zum Interimspräsidenten des Europäischen Jüdischen Kongresses (EJC) bestimmt worden. Was sind Ihre Prioritäten in den nächsten Monaten?
Wir befinden uns in einer kritischen Situation – zum einen, was die Sicherheit der Juden in Europa angeht. Wir wissen noch gar nicht, wie sich der Krieg in der Ukraine entwickelt und wie dramatisch die Auswirkungen sein werden, die noch auf Europa zukommen – zum Beispiel, ob die Arbeitslosigkeit stark ansteigt, falls es ein Gasembargo geben wird. Schon jetzt sehen wir furchtbare Zahlen beim Antisemitismus. Ich will nicht schwarzmalen, aber wir müssen uns darauf vorbereiten, dass es noch schlimmer kommen könnte.

Und zum anderen?
Wir müssen auch die möglichen Konsequenzen im Auge behalten, sollte es doch noch zu einer Unterzeichnung des Atomabkommens mit dem Iran kommen. Und natürlich muss ich mich auch um die Sicherung der finanziellen Zukunft des EJC kümmern. Noch ist genug Geld in den Kassen, um die Gehälter der Mitarbeiter zu bezahlen, aber wir brauchen eine langfristige Finanzierung der Organisation. Erste Gespräche dazu habe ich bereits geführt.

In den vergangenen 15 Jahren hat Moshe Kantor praktisch allein den EJC finanziert.
Dafür bin ich ihm auch sehr dankbar.

Aber bringt es eine Organisation nicht in eine Schieflage, wenn sie ausschließlich von einem einzigen schwerreichen Mann unterhalten und geführt wird?

Da gebe ich Ihnen ausdrücklich recht. Das gilt aber nicht nur für den EJC, sondern für alle größeren jüdischen Organisationen. Es betrifft auch nicht nur russische Geschäftsleute, sondern ebenso Amerikaner und andere. Und nicht nur für die Galut. Schauen Sie mal nach Israel: Die meisten Einrichtungen dort – ich nenne nur Beit Hatefutsot, die Universität Tel Aviv oder die Hebräische Universität in Jerusalem – sind dramatisch abhängig von einigen wenigen reichen Juden. Das war auch in der Vergangenheit schon so.

Die Spender verfolgen damit doch auch persönliche Interessen …
Natürlich tun sie das, da darf man sich auch nichts vormachen. Wir sind nun einmal dramatisch abhängig vom Geld reicher Juden. Israel ist es auch. Das Land stünde heute nicht dort, wo es steht, wenn es diese Großspenden nicht gegeben hätte.

Was kann man ändern?
Klar ist: Ich kann keine schlagkräftige Organisation aufbauen, wenn meine Mitgliedsverbände nur ein paar Tausend Euro im Jahr beisteuern. Ich habe mir – gemeinsam mit dem damaligen EJC-Präsidenten Michel Friedman und anderen – schon vor mehr als 20 Jahren Gedanken darüber gemacht, wie man den EJC auf eine solide finanzielle Grundlage stellen kann. Damals war er von Edgar Bronfman abhängig, dem seinerzeitigen Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses. Wir diskutierten die Idee einer Stiftung, eines großen europäisch-jüdischen Fonds, in den reiche Menschen einzahlen, ohne selbst direkt Einfluss zu nehmen. Aber daraus ist bekanntlich nichts geworden.

Aktuell fliehen wegen des von Russland begonnenen Krieges viele Juden aus der Ukraine, aber auch aus Russland und anderen Nachbarstaaten. Bislang hat man vom EJC recht wenig zu diesem Thema gehört. Wird das unter Ihrer Führung anders werden?
Nein. Von mir kriegen Sie keine Stellungnahme des EJC dazu. Ich sage Ihnen auch warum: In den genannten Ländern leben – je nachdem, wen man mitzählt – bis zu einer Million Juden. Viele haben Angst. Was die von uns erwarten, ist, dass wir ihnen helfen, dass wir sie unterstützen und schützen. Meine Aufgabe ist es nicht, Statements abzugeben. Das bringt nichts, außer ein bisschen Applaus aus den eigenen Reihen. Niemand kann ernsthaft behaupten, dass sich Putin vom Präsidenten einer jüdischen Organisation überzeugen ließe. Aber es kann Menschen schaden, und das will ich nicht. Deswegen habe ich auch EJC-intern die Kakophonie beendet.

Gibt es konkrete Hilfsprojekte, die der EJC initiiert hat?
Ja, die gibt es, an der Grenze zur Ukraine und im Land selbst. Mehr will ich aber dazu nicht sagen, ich bitte da um Verständnis. Viele dieser Projekte davon wurden übrigens von Moshe Kantor bezahlt, und zwar außerhalb des EJC-Budgets – hier muss ich mich jetzt um alternative Finanzquellen kümmern.

Sehen Sie angesichts der jüngsten Entwicklungen eine Zukunft für die jüdischen Gemeinden in Mittel- und Osteuropa?
Das jüdische Volk ist bekanntlich sehr resilient. Es hätte niemand geglaubt, dass nach der Schoa, nach Stalin und den langen Jahren des Kommunismus jüdisches Leben in Osteuropa wiederaufgebaut werden würde. Aber keine Frage, wir haben da ein Megaproblem, das auf uns zukommt. In den nächsten 20, 30 Jahren könnte womöglich die Hälfte der Juden Europa verlassen, und kleinere jüdische Gemeinden würden ausbluten – übrigens nicht nur wegen des Antisemitismus, sondern auch wegen der Assimilation und des fehlenden Engagements im Bereich jüdische Bildung. Wir können uns in einer solchen Lage nicht ausruhen, sondern müssen uns noch mehr anstrengen, damit es nicht dazu kommt. Auch Israel muss der jüdischen Diaspora hier helfen.

In Frankreich erzielte vor zwei Wochen Marine Le Pen mehr als 41 Prozent der Stimmen, in anderen EU-Staaten werden Rechtsparteien immer stärker. Wie soll die jüdische Gemeinschaft damit umgehen?
Ich war da schon immer ganz klar: Mit diesen Kräften wollen und dürfen wir nichts zu schaffen haben! Bei den meisten dieser Parteien, sei es in Ungarn oder in Deutschland, gibt es einen tiefen antisemitischen Bodensatz.  Die versuchen das natürlich zu kaschieren, aber bei Funktionsträgern vieler dieser Parteien kommt der braune Dreck irgendwann trotzdem zum Vorschein. Wir haben hier in Österreich mit dem FPÖ-Vorsitzenden Herbert Kickl ein Paradebeispiel dafür. Der ist so eine Art »Mini-Goebbels«, der seine eigene Großmutter verkaufen würde, wenn es ihm Stimmen bringen würde. Während der Covid-Pandemie hat Kickl den Leuten sogar empfohlen, sich selbst mit Pferdeentwurmungsmittel zu behandeln. Gleichzeitig ist bei diesen Parteien auch der Antisemitismus immer wieder durchgekommen, vor allem, wenn es um Israel ging.

Nun war Kickl schon österreichischer Innenminister, die ÖVP unter Sebastian Kurz hat ihn und seine Partei 2017 in die Regierung geholt …
Ja. Ich denke aber, die ÖVP wird es nicht noch einmal tun. Aber ich bin kein Prophet, und ich kann auch für die SPÖ nicht die Hand ins Feuer legen.

Die Corona-Pandemie hat auch auf der politischen Linken viel Antisemitismus zutage gefördert. Ein Beleg für die Richtigkeit der Hufeisentheorie?
Jedenfalls ist der Linksaußen Jean-Luc Mélenchon in punkto Antisemitismus keinen Deut besser als Le Pens Partei. Und das Israel-Bashing kommt mittlerweile meistens aus linken Kreisen.

Sehen Sie sich eher als Interimspräsidenten, oder streben Sie an, den EJC längerfristig zu führen?
Schauen Sie, ich bin jetzt 70 Jahre alt. Ich habe mich bereits 2012 als Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien zurückgezogen und hatte eigentlich nicht vor, jetzt nochmals Präsident einer solchen Organisation zu werden. Außerdem bin ich weiter beruflich aktiv und habe genügend andere Hobbys und Interessen, die meine Zeit in Anspruch nehmen. Ich bin auch ohne dieses Amt ein äußerst zufriedener Mensch. Ich mache das jetzt aus Verantwortung für den EJC, aber ich werde keinen Wahlkampf um das Amt führen. An der Spitze vieler jüdischer Verbände stehen Menschen, die sich alle paar Jahre einstimmig im Amt bestätigen lassen. Ob das gut ist, wage ich zu bezweifeln. Man sollte aufhören, bevor sie einen horizontal zur Tür hinaustragen.

Mit dem Interimspräsidenten des Europäischen Jüdischen Kongresses (EJC) und langjährigen Präsidenten der Israeli­tischen Kultusgemeinde Wien sprach Michael Thaidigsmann.

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