Ukraine

Winter im Krieg

Nach dem Abzug der russischen Truppen: Ende November in der Kleinstadt Borodjanka nordwestlich von Kiew Foto: picture alliance / AA

Der russische Krieg gegen die Ukraine ist in den vergangenen Wochen in eine neue Phase eingetreten. Nach der erfolgreichen Gegenoffensive der ukrainischen Armee entfesselt Russland eine Terrortaktik gegen die zivile Infrastruktur, vor allem die Energieversorgung.

Das Leid der Zivilbevölkerung scheint ein bewusstes Ziel des Kremls zu sein. Moskau glaubt, die Einwohner ukrainischer Städte, die ohne Heizung, Licht und Strom dastehen, würden die Regierung in Kiew zwingen, einem Waffenstillstand, wenn nicht gar einer Kapitulation zuzustimmen.

SCHNEE Das Wetter, so scheint es, ergreift Partei für Russland. Stromausfälle bei Schnee und Kälte verlangen der Bevölkerung viel ab. Die ukrainische Regierung warnt, diese Situation könne wahrscheinlich bis März, dem Ende der Heizperiode, andauern. Die Bilder unbeleuchteter Straßen in Kiew und anderen ukrainischen Städten, die dunklen Umrisse von Häusern sowie das schwache Licht von Kerzen und Laternen lösen im Kreml Schadenfreude aus.

Doch es scheint, dass sich Moskau erneut verkalkuliert hat. Denn die ukrainische Gesellschaft reagiert auf den Energieterror genauso wie auf die russische Aggression im Allgemeinen: mit Mut, Würde und Entschlossenheit. Gegenseitige Hilfe und Solidarität sind offenbar zu einem Markenzeichen der Ukrainer geworden.

Nach wie vor beteiligen sich die jüdischen Gemeinden im Land aufgrund ihrer Erfahrung und Professionalität aktiv am öffentlichen Widerstand gegen den russischen Terror. Die Gemeinden können Ressourcen schnell zusammentragen, sie verfügen über Arbeitsbeziehungen zu ausländischen Spendern und Hilfsorganisationen sowie ein großes Netzwerk und eine beträchtliche Anzahl von Freiwilligen. All dies lässt die jüdische Gemeinschaft unter diesen außergewöhnlichen Bedingungen sehr effektiv agieren.

Tag für Tag trägt der Vaad der Ukraine, die jüdische Dachorganisation des Landes, Informationen darüber zusammen, wie viele Menschen in den Gemeinden Hilfe benötigen und welche Art Unterstützung es sein soll. Und er überprüft, welche Ressourcen verfügbar sind.

Die jüdischen Gemeinden beteiligen sich aktiv am öffentlichen Widerstand gegen den Terror.

Derzeit wird vor allem warme Kleidung benötigt – von der Thermo-Unterwäsche, die vorher in der Ukraine kaum bekannt war, bis hin zu Oberbekleidung für Binnenflüchtlinge, die seit März aus den Kriegsgebieten in den Westen des Landes geflohen sind.

Ein relativ preiswertes, aber für viele lebensrettendes humanitäres Hilfsgut sind einfache Decken. Die teuerste, aber derzeit allgemein notwendige Ausrüstung sind Die­selstromgeneratoren. Auch Batterien und Taschenlampen werden in riesigen Mengen benötigt. Ganz besondere Wünsche sind Holzöfen, die zwar in Großstadtwohnungen nicht sicher zu betreiben sind, in kleinen Siedlungen jedoch in privaten und kommunalen Gebäuden nützlich sein können – vor allem dort, wo früher durch ein zentrales Dampfheiz­system geheizt wurde.

JOINT Das Jewish Distribution Committee (JDC), der sogenannte JOINT, ist ein weiterer wichtiger Akteur. Es beteiligt sich an zahlreichen humanitären Projekten in der gesamten Ukraine. Sein System von Chessed-Wohltätigkeitszentren, das sich zuvor hauptsächlich mit der Unterstützung einsamer jüdischer alter Menschen befasste, bewältigt eine zum Teil lebenswichtige Aufgabe: Es hilft Bedürftigen ganz gezielt – von einfachen Lebensmittelpaketen bis hin zu seltenen, knappen Medikamenten.

Sehr aktiv hilft in der Ukraine auch die chassidische Bewegung Chabad Lubawitsch. Rabbi Moshe Reuven Azman, seit 2005 Oberrabbiner der Ukraine, verbringt seit Monaten nur noch wenig Zeit mit seiner Gemeinde in der Brodsky-Synagoge in Kiew. Denn häufig reist er durchs Land.

Mitte November war er einer der ersten Mitarbeiter einer nichtstaatlichen Hilfsorganisation, der das gerade befreite Cherson besuchte. Er brachte 20 Tonnen humanitäre Hilfsgüter mit, vor allem für medizinische Zwecke, sowie ein Team von Ärzten.

FENSTERSCHEIBEN In den befreiten Regionen fehlt es an allem. Bei ihrem Rückzug haben die russischen Invasoren alles mitgenommen, was sie tragen konnten, einschließlich der Ausrüstung aus Krankenhäusern. Die kürzlich befreiten Gebiete befinden sich laut Rav Asman in einer äußerst schwierigen Situation. An der Schwelle zum Winter werden sie geplündert und brauchen buchstäblich alles – von Stromgeneratoren und Kommunikationsgeräten bis hin zu Medikamenten und Fensterscheiben.

Viele vertrauen jüdischen Organisationen, weil sie Bedürftigen gezielt und ehrlich helfen.

Ausländische Freunde und Partner aus Europa, Israel und Nordamerika leisten in diesen schwierigen Zeiten einen enormen Beitrag zur Entwicklung eines Systems der humanitären Hilfe für die Bevölkerung der Ukraine. Viele Menschen kennen und vertrauen der jüdischen Gemeinde nicht nur aufgrund religiöser Solidarität oder bereits bestehender Bindungen, sondern weil sie in den vergangenen Monaten erlebt haben, dass die ukrainische jüdische Gemeinde ein zuverlässiger und professioneller Betreiber humanitärer Programme ist und die Hilfsgüter gerecht und ehrlich verteilt.

Der Kreml kann die Infrastruktur zerstören, aber er kann das ukrainische Volk nicht einschüchtern. Jüdische und nichtjüdische Ukrainer wissen: Die Kraft des Geistes, der Wunsch nach Freiheit und der Glaube an die Gerechtigkeit sind stärker als Kälte und Dunkelheit.

Der Autor ist Historiker in Kiew und dokumentiert die russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine. Er sitzt im Expertenrat der Menschenrechtsorganisation »Zentrum für bürgerliche Freiheiten«, das am 10. Dezember in Oslo den Friedens­nobelpreis erhält.

Jom Haschoa

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