Glosse

Wie ich zur Flämin wurde

Der Grote Markt in der Altstadt von Antwerpen Foto: imago

Fehlt eigentlich nur noch, dass sie Blumen und Beileidsbriefe schicken, so abgrundtief entsetzt sind meine Brüsseler Freunde, als ich meinen Umzug nach Antwerpen ankündige. Am selben Tag klingelt das Telefon nonstop – weil alle wissen wollen, ob ich wenigstens einen guten Grund habe (Riesengrundstück geerbt, Umzug in die Nähe der siechen Erbtante …), oder ob ich einfach nur komplett gaga bin. Nach Antwerpen umziehen? Zu den Irren und Fanatikern? Den Beschejtelten, Langröcken und bärtigen Radikalen? Ein Schicksal, schlimmer als der Tod.

Aber warum hat Antwerpen bei den Brüsselern diesen ultramiesen Ruf? Darum: Die meisten Brüsseler sehen Antwerpen nur am Sonntag beim Koschershoppen, bei Restaurantbesuchen oder an den Hohen Feiertagen. Und das bedeutet jedes Mal eine echte Antwerpener Negativerfahrung.

manieren Nehmen wir zum Beispiel die Hohen Feiertage: Hier sind die Antwerpener sowieso schon mies drauf. Sie hassen Feiertagstouristen aus aller Welt, die ihnen in der Synagoge die besten Plätze wegschnappen, in Miniröcken und knappen Tops auftauchen und bei der Toralesung lautstark die Börsenkurse diskutieren. Die Antwerpener sind darum äußerst gereizt. Taucht dann auch noch ein Brüsseler in der Schul auf, ist es um die guten Manieren geschehen, und die Antwerpener werden bissig. Denn Brüssel heißt für sie: der gottlose Moloch, der Sündenpfuhl, die Stadt ohne Eruw, pfui!

Brüsseler Juden werden darum in Antwerpen von jeher mit exquisiter, schneidender Verachtung behandelt. Im Koscher-Shop werden sie schlichtweg ignoriert, im Restaurant werden sie in eine miefige Ecke gesetzt, bekommen die fettigen Fleischteile und hinterher eine gesalzene Rechnung.

Die Brüsseler wiederum verachten die Antwerpener aus tiefstem Herzen, weil sie sie für geldgeile, heuchelnde, notorische Klatschbasen halten. Die Antwerpener, so heißt es, haben praktisch kein Privatleben, dauernd glucken sie zusammen, wohnen praktisch alle in derselben Straße und linsen sich gegenseitig in die Kochtöpfe.

Und jetzt bin ich doch tatsächlich auf dem Weg nach Antwerpen und habe das Gefühl, ich könnte mich genauso gut lebendig begraben lassen. Denn in Antwerpen sind ausnahmslos alle entweder viel reicher oder viel religiöser als ich, oder beides. Mein Schicksal als leprakranker Paria ist vorgezeichnet.

freundschaft Doch dann geschah das Unvorhersehbare: Ein paar wildfremde Typen mit sehr jüdischen Namen suchen kurz vor dem Umzug meine Facebook- Freundschaft. Ich frage meinen Mann Alain, seines Zeichens Ex-Antwerpener, wer denn diese ganzen ominösen Goldblums und Lieberfreunds und Silberzweigs sind. »Das«, grinst er und wackelt vielsagend mit den Augenbrauen, »sind die Eltern der zukünftigen Klassenkameraden deiner Tochter Emma.« »Und woher wissen die das? Wie haben sie mich gefunden?«, frage ich total entgeistert. Wieder grinst Alain vielsagend. Typisch Antwerpen, der FBI ist eine Lachnummer gegen die!

Tatsächlich aber scheint Emmas Kindergarten schon bald nach dem Umzug der Schlüssel zu einem neuen, sehr angenehmen Leben in Antwerpen zu sein. Emma hat bald eine ganze Schar von Freundinnen, mit deren Eltern wir uns wiederum schnell anfreunden.

badewanne Und »Freundschaft« bedeutet in Antwerpen eine derart intensive Beziehung, wie sie im zugeknöpften, riesigen, anonymen Brüssel nie möglich gewesen wäre. Hier in Antwerpen, wo sämtliche Klassenkameraden in Gehweite wohnen, isst Emma jeden Tag bei irgendwelchen Freunden zu Mittag, wird zu Ballett- und Schwimmstunden chauffiert. Bei mir wiederum sitzen an vielen Abenden irgendwelche kleinen Freundinnen von Emma mit am Abendbrottisch und hinterher in ihrer Badewanne.

Vor meinem Fernseher räkelt sich ständig ein halbes Dutzend Gören, von denen ich nur die Hälfte dem Namen nach kenne. Ich treffe jeden Schabbat meine neuen Freundinnen auf unserer Stammbank im Park am Spielplatz und bekomme selbst gebackenen Kuchen serviert. Auch mit Challot werde ich jede Woche eingedeckt. Am Schabat bin ich fast jede Woche eingeladen, bin fast ständig von Freunden umgeben.

Für manche bedeutet so ein Leben wahrscheinlich Klaustrophobie pur, man fühlt sich tatsächlich ein bisschen wie im Kaninchenbau. Aber wie sich herausgestellt hat, gebe ich ein erstklassiges Kaninchen ab und bin wie geschaffen dafür. Denn so ein Kaninchenbau hält schön warm. Und wenn ich jetzt an mein Leben in Brüssel zurückdenke, fange ich an zu frösteln.

Bereit fürs ICZ-Präsidium: Noëmi van Gelder, Arthur Braunschweig und Edi Rosenstein (v.l.n.r.)

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