Ukraine

Wie ein Sozialwerk

Freiwillige von United Hatzalah helfen einer ukrainischen Frau. Foto: picture alliance / AA

Ukraine

Wie ein Sozialwerk

Warum die jüdische Gemeinde auch in Kriegszeiten so effektiv arbeiten kann und im ganzen Land sehr angesehen ist

von Vyacheslav Likhachev  17.05.2022 12:32 Uhr

Externer Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel anreichert. Wir benötigen Ihre Zustimmung, bevor Sie Inhalte von Bottalk ansehen und mit diesen interagieren können.

Mit dem Betätigen der Schaltfläche erklären Sie sich damit einverstanden, dass Ihnen Inhalte aus Bottalk angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittanbieter übermittelt werden. Dazu ist ggf. die Speicherung von Cookies auf Ihrem Gerät nötig. Mehr Informationen finden Sie hier.

In den vergangenen Wochen haben Kiews Synagogen und jüdische Gemeindezentren viel mehr Menschen gesehen als je zuvor. Selbst während der Hohen Feiertage kamen nicht so viele Menschen wie jetzt. Die religiöse Funktion der jüdischen Gemeinde ist in den Hintergrund getreten und die soziale in den Vordergrund gerückt.

In Städten, die nicht unter Beschuss sind, haben sich Gemeindeeinrichtungen zu multifunktionalen humanitären Zentren entwickelt. Hier treffen Lebensmittel, Medikamente und andere Waren ein, die Vertreter jüdischer Gemeinden aus dem europäischen Ausland gekauft haben und hierherbringen. Hilfsgüter werden entladen, sortiert und dorthin weitertransportiert, wo sie gebraucht werden. Dies sind vor allem Regionen in der Nähe aktueller Kampfhandlungen oder Gegenden, in denen in letzter Zeit Kämpfe stattgefunden haben.

NACHBARSCHAFT Humanitäre Hilfe wird jedoch auch in der Nachbarschaft geleistet. Viele einsame, bedürftige ältere oder kranke Menschen brauchen Unterstützung, weil sie ohne angemessene staatliche Versorgung oder Hilfe von Verwandten und Freunden zurückgelassen wurden.

Die Jüngeren sind an die Front gegangen, ins Ausland oder in sicherere Regionen im Westen der Ukraine. Dort erhalten Bedürftige gerade in jüdischen Gemeindezentren medizinische Versorgung, psychologische Hilfe, Lebensmittel und oft auch eine Unterkunft. Viele haben keine Wechselkleidung dabei und mitunter nicht einmal Ausweispapiere. Sie sind mit dem geflohen, was sie auf dem Leibe trugen.

Die jüdische Gemeinde hat viele Menschen gerettet aus Städten
unter Beschuss.

Vielen Binnenflüchtlingen, vor allem alleinstehenden Älteren und Menschen mit Behinderung, musste bei der Evakuierung geholfen werden. Gemeindeinstitutionen, vor allem der Waad der Ukraine, die jüdische Dachorganisation des Landes, haben besondere Anstrengungen unternommen, um die Logistik für die Evakuierung der Kampfgebiete zu organisieren. Die jüdische Gemeinde hat viele Menschen der Zivilbevölkerung aus Städten unter Beschuss herausgeholt, zum Beispiel aus Rubischne in der Region Luhansk.

Jüdische Einrichtungen helfen allen Bedürftigen unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft und Religionszugehörigkeit.

SOLIDARITÄT Die ukrainische Gesellschaft reagiert auf den enormen Druck von außen mit beispielloser Solidarität. Das ganze Land hat sich in einen riesigen Ameisenhaufen verwandelt, in dem ohne grundlegende Koordinierung eine Reihe von Basisinitiativen auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten. Vermutlich sind nicht Zehn-, sondern Hunderttausende Menschen in unterschiedlichem Maße an diesen sich selbst organisierenden Aktivitäten beteiligt: der Zivilbevölkerung und jenen an der Front helfen, Geld sammeln, Waren aus dem Ausland herbeischaffen und verteilen – von Babynahrung über die Transportbox für Haustiere bis zur kugelsicheren Weste.

Inmitten all dessen erweist sich die jüdische Gemeinde als ein auffälliger und äußerst effektiver Akteur. Ihr Erfolg in der humanitären Arbeit beruht unter anderem auf der bereits vorhandenen sozialen Infrastruktur und den langjährigen Erfahrungen.

Die jüdische Gemeinde der Ukraine ist in den vergangenen Jahrzehnten stark gealtert. Viele Jüngere sind nach Israel gegangen, in die Vereinigten Staaten oder nach Deutschland, während einsame alte Menschen in der Obhut gemeindlicher Einrichtungen bleiben.

netzwerk Den Gemeinde­institutionen gelang es nach der kommunistischen Zeit mit dem Aufkommen von Strukturen wie dem JOINT, dem American Jewish Joint Distribution Committee (JDC), ein groß angelegtes Netzwerk aufzubauen. Es erweist sich als hervorragende Basis, um auf die Herausforderungen des Krieges zu reagieren.

Dass die jüdische Gemeinde in der humanitären Arbeit unter Kriegsbedingungen derzeit so erfolgreich ist, liegt auch an ihren zahlreichen Arbeitskontakten ins Ausland.

Dass die jüdische Gemeinde in der humanitären Arbeit unter Kriegsbedingungen derzeit so erfolgreich ist, liegt auch an ihren zahlreichen Arbeitskontakten ins Ausland. Die internationale jüdische Solidarität erweist sich als äußerst wirkungsvoll. Jahrzehntelange persönliche und institutionelle Beziehungen haben der jüdischen Gemeinde in der Ukraine geholfen, sowohl Lieferketten aus Europa (oder von Israel und Amerika durch Europa) als auch in die andere Richtung, die Aufnahme eines großen Flüchtlingsstroms schnell zu organisieren.

Psychologen sagen, es dauere etwas mehr als zwei Monate, bis ein Mensch eine Gewohnheit entwickelt. Ob man dieses Bild auf eine Gesellschaft übertragen kann? Es scheint, dass sich die jüdische Gemeinde in der Ukraine daran gewöhnt, im Krieg zu leben.

Der Autor ist Historiker und Journalist in Kiew. Er dokumentiert die aktuellen Kriegsverbrechen in der Ukraine.

Meinung

Für Juden in Frankreich ist das Spiel aus

Präsident Emmanuel Macrons antiisraelische Politik macht ihn zum Verbündeten der Islamisten und deren linken Mitläufern. Für Juden wird das Leben währenddessen immer unerträglicher

von Haïm Musicant  20.08.2025

Österreich

Jüdische Familie aus Taxi geworfen

In Wien beschimpfte ein Uber-Fahrer seine jüdischen Gäste und attackierte dann den Familienvater

von Nicole Dreyfus  19.08.2025

Tschechien

Im Versteck der Zeit

Auf einem Hügel über Brünn liegt die Villa Wittal, fast unberührt seit der Deportation ihrer Bewohner 1942. Bald wird sie ein Ort für Gäste aus aller Welt – und das Herz eines Festivals, das Geschichte und Gegenwart verbindet

von Kilian Kirchgeßner  19.08.2025

Schweiz

Ein Mandat, das für Irritationen sorgt

Der World Jewish Congress fordert von der UBS mehrere Milliarden Dollar Entschädigung und holt dafür Urs Rohner, Ex-Verwaltungsratspräsident der früheren Credit Suisse, ins Boot

 19.08.2025

Österreich

Auge in Auge mit Antizionisten

Wie spricht man mit Menschen, die Israel hassen? Und was, wenn sie Juden sind? Ein Selbstversuch in Wien

von Gunda Trepp  18.08.2025

Berlin

Sam Altman: Ehrung von Axel Springer SE

Der amerikanische Jude gilt als Vordenker auf dem Feld der KI und als Architekt einer neuen technologischen Ära

 18.08.2025

Meinung

Soll die Schweiz Palästina anerkennen?

Eine Anerkennung von Palästina wäre für die Schweiz ein außenpolitischer Kurswechsel, von dem niemand profitiert

von Nicole Dreyfus  17.08.2025

USA

»Don’t dream it, be it!«

Auch die »Rocky Horror Picture Show« hat jüdische Seiten. Und dabei geht es nicht nur um Bagels. Mazal tov zum Fünfzigsten!

von Sophie Albers Ben Chamo  17.08.2025

Zürich

Die gute Seele der Gemeinde

Seit 13 Jahren sorgt der muslimische Hausmeister Michel Alassani dafür, dass im Gebäude der Israelitischen Cultusgemeinde alles rundläuft

von Nicole Dreyfus  14.08.2025