Niederlande

Wer verriet Anne Frank?

Ein neues Buch wirft alte Fragen auf, liefert Enthüllungen, die sich nicht beweisen lassen – und sorgt bei Historikern für Ärger

von Alicia Rust  12.02.2022 18:07 Uhr

Der Verlag hat die zweite Auflage gestoppt. Foto: picture alliance / ANP

Ein neues Buch wirft alte Fragen auf, liefert Enthüllungen, die sich nicht beweisen lassen – und sorgt bei Historikern für Ärger

von Alicia Rust  12.02.2022 18:07 Uhr

Erinnerungen verändern sich. Nicht nur, weil sie mit der Zeit verblassen, sondern vielmehr, weil sich die Gesellschaft in der Zwischenzeit verändert und der Blick mitunter aus einer anderen Perspektive kommt.

Haarig wird es hingegen, wenn historische Begebenheiten mithilfe modernster Untersuchungsmethoden noch einmal ganz neu aufgerollt werden und die Recherchen einer »Experten-Untersuchung« anschließend zu »sensationellen« Ergebnissen führen. Noch schwieriger wird es, wenn es sich – wie im Fall von Anne Frank und dem potenziellen Verräter ihres Verstecks – um die kollektive Erinnerung mehrerer Generationen handelt. Das kann zu hoch emotionalen Debatten führen.

GELD Wer hat Anne Frank verraten? Das ist die zentrale Frage, der in Amsterdam ein sogenanntes Cold-Case-Team über fünf Jahre lang nachgegangen ist. 2016 von dem niederländischen Filmemacher Thijs Bayens und dem befreundeten Journalisten Pieter van Twisk ins Leben gerufen, leitete der ehemalige FBI-Agent Vince Pankoke das Team, das zu Beginn aus 21 Experten bestand.

Dazu brauchte es vor allem viel Geld. Die Stadt Amsterdam zeigte sich spendabel, der Rest kam unter anderem durch Crowdfunding zusammen. Anschließend wurde ein Buch daraus gemacht, verfasst von Bestsellerautorin Rosemary Sullivan, einer 74-jährigen emeritierten Literaturprofessorin von der University of Toronto, die vor allem durch die Biografie Stalin’s Daughter bekannt wurde. Ferner war eine zehnteilige Fernsehserie geplant.

Am 18. Januar wurde The Betrayal of Anne Frank veröffentlicht – und nun hagelt es massive Kritik. Der Historiker Bart van der Boom bezeichnet die Enthüllungen als »verleumderischen Unsinn«, der Amsterdamer Historiker Ben Wallet ärgert sich über die ungenaue Beweisführung, die »so wacklig wie ein Kartenhaus« sei.

ENTSCHULDIGUNG Inzwischen hat der Ambo-Anthos-Verlag, wo die niederländische Übersetzung des Buches erschien, den Druck einer zweiten Auflage gestoppt; es seien noch Fragen zu klären. Es folgte eine Entschuldigung bei den Kritikern und all jenen, die sich durch das Buch gekränkt gefühlt haben könnten.

Die zentrale These des Buches klang zunächst nach einer Sensation.

Dabei klang die zentrale These des Buches zunächst nach einer Sensation: Mit 85-prozentiger Wahrscheinlichkeit soll der jüdische Notar Arnold van den Bergh das Versteck der Familie Frank im Amsterdamer Hinterhaus an der Prinsengracht 263 an die Nationalsozialisten verraten haben, um dadurch seine eigene Familie zu retten. Der angesehene Bergh war Mitglied des Jüdischen Rates und durch sein Amt zunächst geschützt.

Die Kontakte zu den untergetauchten Juden wurden, so die Theorie, auf Listen festgehalten. Beweise dafür gab es nie. 1944 fiel der Schutz für van den Bergh und seine Familie, darunter drei Töchter; es drohte die Deportation. Die Familie überlebte. Zum Zeitpunkt des angeblichen Verrats an den acht jüdischen Bewohnern, darunter Anne Frank, im August 1944 war van den Bergh mit seiner Familie bereits untergetaucht. Ein Verrat aus einem Versteck heraus ergibt wenig Sinn.

Die Untersuchungen waren zunächst in bester Absicht und mit modernsten technischen Mitteln und Datenanalysen durchgeführt worden. Tausende Dokumente wurden mithilfe von künstlicher Intelligenz durchforstet.

spekulation Hauptbeweisstück für die kühne neue These war am Ende kaum mehr als die Abschrift eines Schreibens, das Annes Vater Otto Frank 1946 von einem anonymen Absender erhalten hatte. Das Original, in dem Notar van den Bergh als »Verräter« bezeichnet wurde, scheint spurlos verschwunden. Spekulation und Gerüchte anstelle von Fakten?

»Ich glaube, sie sind bei ihrem ursprünglichen, positiven Vorhaben, einen Täter auszumachen, vom Weg abgekommen, und es fehlte ihnen an Mut, das zuzugeben. Dadurch haben sie einen großen Schaden verursacht«, sagt die Chefredakteurin des »Nieuw Israëlietisch Weekblad«, Esther Voet, die diese Debatte von Anfang an publizistisch verfolgt hat. Wenn die Beweislage für eine neue These derart dünn ist, wäre es wohl besser gewesen, die Erkenntnisse zunächst mit anderen Experten zu beraten, anstatt sie in ein massentaugliches Literaturformat zu pressen und intensiv zu vermarkten.

Immerhin hatte das NIOD-Institut in Amsterdam bereits 2003 sämtliche, bis dahin zusammengetragenen Theorien ausgewertet. Auch die »van den Bergh«-Theorie war damals bekannt, da sie bereits in den 60er-Jahren untersucht worden und von der Kriminalpolizei für nicht sehr glaubwürdig befunden worden war.

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