Es sind 425.000 Akten über Personen, die der Kollaboration mit den Nazis verdächtigt wurden. Auf rund 30 Millionen Seiten mit einer Gesamtlänge von 3,8 Kilometern. Das sind die beeindruckenden Details des Centraal Archief Bijzondere Rechtspleging (CABR). 80 Jahre nach der Befreiung von der deutschen Besatzung ist das größte niederländische Archiv über den Zweiten Weltkrieg seit Anfang Januar gemäß der Archivgesetzgebung für jeden vor Ort zugänglich. Doch das ist nicht alles: Mit dem Digitalisierungs-Projekt »Oorlog voor de rechter« (Krieg vor dem Richter) sollten die im National-Archiv in Den Haag gelagerten Dokumente auch online einsehbar sein. Eigentlich.
Dass daraus bislang nichts wurde, liegt an der niederländischen Datenschutzbehörde, Autoriteit Persoonsgegevens (AP). Diese kam Ende 2024 zu dem Schluss, dass die vollständige Öffnung gegen gesetzliche Bestimmungen verstoße, da die betreffenden Dokumente strafrechtlich relevante Details womöglich noch lebender Personen enthielten – sowohl von Verdächtigen als auch von Opfern – und persönliche Dokumente wie Tagebücher, Briefe oder Fotos darunter wären. Letztere dürften nicht einfach digital zugänglich gemacht werden.
»Dieses Archiv ist von großer gesellschaftlicher Bedeutung und bietet neue Möglichkeiten, um dahinterzukommen, was in der Vergangenheit geschehen ist. Aber die Art, wie das Nationalarchiv das CABR online zugänglich machen will, verstößt gegen das Archivgesetz und die Datenschutzverordnung«, so die Begründung der AP. Empfindliche Informationen könnten dabei öffentlich Verbreitung finden, etwa über soziale Medien. Eine unbegrenzte Zugänglichkeit bringe zu große Risiken für die Privatsphäre mit sich.
Eine unbegrenzte Zugänglichkeit bringe zu große Risiken für die Privatsphäre mit sich.
Persönlich vor Ort eingesehen werden können die betreffenden Akten beim Zentralarchiv dagegen wie geplant, wenn man diese zuvor reserviert. Auf der Website des Nationalarchivs werden Interessierte auch Monate nach der Teilöffnung darauf hingewiesen, dass der Inhalt des CABR-Archivs auf »großes Interesse« stoße und der lokale Lesesaal daher »häufig ausgebucht« sei. Ein Register auf der Website oorlogvoorderechter.nl bietet eine Übersicht im Archiv enthaltener Namen, »vorwiegend Verdächtige, doch können auch Opfer darunter sein«.
Der Rückzieher im Winter zeugt davon, welch gesellschaftliche Brisanz der Frage der Kollaboration auch 80 Jahre nach der Befreiung noch immer zukommt. In den Niederlanden gab man sich lange einem Selbstbild kollektiven Widerstands gegen die Nazis hin. Dabei waren Kollaboration und Verrat gegen Kopfgeld weit verbreitet. Etwa 102.000 Jüdinnen und Juden wurden ermordet – drei Viertel der jüdischen Bevölkerung, relativ gesehen mehr als in jedem anderen westeuropäischen Land.
Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit begann spät, und den zurückkehrenden Überlebenden schlug blankes Desinteresse entgegen. Bis heute heißt es im allgemeinen Sprachgebrauch »der Krieg«, auch wenn es ausdrücklich um den Holocaust geht. Die Bezeichnung »NSB-ler« – die auf die damalige Nationaal-Socialistische Beweging verweist – wird noch immer als Schimpfwort verwendet. Die Frage, wer in jener Zeit »fout« (falsch) war und aufseiten der Deutschen stand, ist weiterhin heikel – zumal in kleinen ländlichen Gemeinden, wo die Öffnung des Archivs durchaus für Anspannung sorgt.
Überlebenden und ihren Kindern die Informationen nicht vorenthalten
Emile Schrijver, Direktor des vor einem Jahr eröffneten Amsterdamer Nationaal Holocaust Museum (NHM), kommentiert angesichts dieses Hintergrunds: »Ich verstehe den komplexen juristischen Kontext, und dass solche Prozesse Zeit brauchen. Aber aus ethischen Gründen darf das keinen Tag länger als nötig dauern. Moralische Grundsätze gebieten es, das Archiv für die Personen, die noch da sind, für Überlebende und ihre Kinder, die verstehen wollen, was in ihrem Leben geschehen ist, zugänglich zu machen und ihnen die Informationen nicht vorzuenthalten«, so Schrijver. »Sie gebieten auch, das sorgfältig zu tun. Dass ein Teil der Täter noch lebt oder dort auch Informationen enthalten sind, die vielleicht zu Unrecht in eine bestimmte Richtung weisen, halte ich im Vergleich zur moralischen Verpflichtung gegenüber den Opfern für einen Kollateralschaden.«
Mirjam Loonstijn, die als Kind die Schoa überlebte, sieht das ähnlich: »Ich finde es schrecklich, dass dieses Archiv nicht öffentlich gemacht wird«, sagt die 83-Jährige. »Weil ich bestimmte Dinge wissen will: wer meine Urgroßmutter abführte, und wer sie verraten hat. Auch die übrigen Familienmitglieder, es waren so viele. Wenn ich weiß, wer etwas getan hat, kann ich etwas abschließen.« Dass die völlige Öffnung abgeblasen wurde, »unter dem Vorwand, dass noch zu viele Täter leben«, ärgert sie. »Das geschieht, um die Nachkommen von ›foute‹-Niederländern zu schützen.«
Für Loonstijn sei dies überflüssig: »Ich würde die Nachkommen nie komisch anschauen«, betont sie und erzählt, wie sie als Kind mit der Tochter eines solchen Mannes, der nach dem Krieg interniert wurde, befreundet war und auch sonst Kontakt zu Kindern aus entsprechenden Familien hatte. »Deren Eltern erlaubten nicht, dass ich in ihr Haus kam. Aber das machte nichts, wir spielten viel auf der Straße.« Auch die Eltern ihrer Pflegemutter seien »falsch« gewesen, so Loonstijn weiter, und vermittelt damit einen Eindruck von den Gegebenheiten in den Niederlanden nach der Befreiung.
»Wenn ich weiß, wer etwas getan hat, kann ich etwas abschließen.«
Mirjam Loonstijn
Innerhalb dieser Konstellation soll nun ein Gesetzesvorschlag von Eppo Bruins, dem Minister für Bildung, Kultur und Wissenschaft, dafür sorgen, dass die digitale Archiv-Öffnung so bald wie möglich doch erfolgt. Dazu soll zwischen Schutz der Privatsphäre und Zugang zu Informationen abgewogen werden, um ein Gleichgewicht zwischen beiden herzustellen. Die öffentlichen Konsultationen zu dem Vorhaben wurden Ende April abgeschlossen.
Bruins geht es darum, dass Angehörige von Opfern sich über deren Schicksal informieren können, aber auch um Forschung und Aufklärung über den Krieg und den Holocaust angesichts der immer kleiner werdenden Zahl der Augenzeugen.
Gerade um junge Menschen mit dem Thema in Kontakt zu bringen, sei es wichtig, dies »auf ihrem eigenen Terrain« zu tun: »Und das ist online«, so Bruins gegenüber niederländischen Medien. Laut einer Sprecherin des Archivs könne die vollständige Archiv-Öffnung eine gesellschaftliche Diskussion mit heilsamem Charakter in Gang setzen. Profitieren sollen aber nicht zuletzt auch Angehörige von Opfern, die zu alt sind, um persönlich nach Den Haag zu kommen, oder sich eine Reise nicht leisten könnten.