Frankreich

Welle der Gewalt

Zusammenstöße zwischen Polizei und Jugendlichen im Pariser Vorort Nanterre (29. Juni) Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS

Die Unruhen, die am 27. Juni in Frankreich ausbrachen, nachdem der 17-jährige Nahel M. bei einer Verkehrskontrolle in Nanterre bei Paris von einem Polizisten erschossen worden war, haben das ganze Land erschüttert. Und sie haben besonders in der jüdischen Gemeinde große Besorgnis ausgelöst.

Nicht nur, dass in solchen Situationen häufig die Zahl antisemitischer Angriffe zunimmt, wie bereits zuletzt bei der »Gelbwesten«-Krise, aber auch im Rahmen der Covid-19-Pandemie. Es kommt hinzu, dass auch die Rechtsextremen massiven Rückenwind durch das Chaos erhalten, in dem Frankreich nun nach dem »starken Mann« ruft, der bei der nächsten Präsidentschaftswahl 2027 durchaus auch eine »starke Frau« sein könnte, Marine Le Pen.

KÖCHELN Eine Woche lang befand sich Frankreich im Ausnahmezustand. Die meisten Franzosen haben das Gefühl, dass die Unruhen noch lange nicht vorbei sind. Denn am Unmut, der seit Jahrzehnten in den Problemvierteln gärt, hat sich durch den Einsatz von 45.000 Polizisten zur Beruhigung der Lage nichts geändert. Im Gegenteil – in den »Cités« köchelt die Wut weiter und kann jederzeit wieder in Orgien der Gewalt und Zerstörung umschlagen.

Thierry Roos, Vize-Präsident des israelitischen Konsistoriums des Departements Bas-Rhin und früherer Stadtrat in Straßburg, ist sich, wie er sagt, »quasi sicher«, dass diese Unruhen zu einem erneuten Anstieg antisemitischer Übergriffe führen werden. Besonders beunruhigend ist für ihn das »politische Ausschlachten« der Plünderungen und der Gewalt durch die Politik. »Hier entsteht ein Bruch zwischen den verschiedenen Gesellschaftsgruppen. Diese Gewalt hat sich schon seit Jahren abgezeichnet. Es war klar, dass es so weit kommen musste«, analysiert Roos.

Auch in der Europahauptstadt Straßburg wurden in den Problemvierteln zahlreiche Autos angezündet, es kam zu Angriffen auf Polizisten, Feuerwehrleute und Rettungssanitäter. Geschäfte wurden geplündert und zerstört. Der Aufstand der »Cités« hat sich aus den Problemvierteln auch in die Innenstadt verlagert, und viele Beobachter befürchten, dass die Gewalt jederzeit wieder aufflammen kann.

vorboten Diese Unruhen sind jedoch keinesfalls die Vorboten einer »Französischen Revolution 2.0«. »Diesmal wird man nicht den König enthaupten, sondern erneut mit dem Finger auf die Juden zeigen«, befürchtet Thierry Roos und erinnert daran, dass es bereits nach den letzten Krisen im seit 2018 ständig von gewalttätigen Demonstrationen gebeutelten Frankreich zu einem Anstieg antisemitischer Angriffe kam.

Das »politische Ausschlachten« der Gewalt beunruhigt jüdische Beobachter.

Auch diesmal war es in Paris nicht anders. »Die ersten zerstörten Geschäfte im Großraum Paris waren wieder jüdische Geschäfte, und auch das Memorial der Shoah wurde geschändet«, stellt Roos fest.

Frankreichs Gesellschaft ist heute zutiefst gespalten, und dies führt zu extremen Reaktionen. So sagt Dan Leclaire, stellvertretender Direktor des Straßburger Radiosenders »Radio Judaïca«, dass er über die Reaktionen auf den Tod von Nahel M. schockiert war. »Ich glaube, dass sich die Ereignisse gegen die Gemeinde richten werden«, sagt er. »Das war doch schon immer so. Wenn gesellschaftliche Entwicklungen eskalieren, dann führt das zu einem Anstieg antisemitischer Übergriffe. Speziell bei diesen Unruhen ist so viel Hass im Spiel, dass man sich fast sicher sein kann, dass wir in nächster Zeit wieder antisemitische Akte erleben werden.«

Leclaire weiß, wovon er spricht, kommt es doch in Straßburg immer wieder zu Übergriffen auf jüdische Personen und Einrichtungen.

BRODELN In der Tat brodelt es seit Wochen in den sozialen Netzwerken in Frankreich. Die einen fordern die Wiedereinführung der Todesstrafe sowie der allgemeinen Wehrpflicht und wollen die Eltern der jugendlichen Randalierer finanziell in die Pflicht nehmen, während die anderen die Ausschreitungen aufgrund der »Polizeigewalt« zu rechtfertigen suchen.

Die Vereinten Nationen mahnten Frankreich an, es müsse sich mit dem Problem des Rassismus und der Fremdenfeindlichkeit in der Polizei auseinandersetzen. Ein Vorwurf, den die Regierung in Paris von sich wies – obwohl bekannt ist, dass mehr als zwei Drittel der französischen Polizeikräfte dem rechtsextremen »Rassemblement National« nahestehen.

Anfang des Monats fanden überall in Frankreich »Märsche für Nahel M.« statt. »Gerechtigkeit für Nahel«, so lautet die Forderung der Demonstranten. Doch an dieser Gerechtigkeit arbeitet die französische Justiz bereits. Der Todesschütze Florian M. sitzt in Untersuchungshaft, die Anklage lautet auf Totschlag, wobei die französische Anklage »homicide volontaire« heißt, was eine Tötungsabsicht unterstellt. Der Prozess wird unter großer Medienaufmerksamkeit stattfinden, und so nimmt die »Gerechtigkeit für Nahel« ihren Lauf.

In Straßburg wird die jüdische Gemeinde die Entwicklungen weiter mit Sorge beobachten. Ob die Gewalt in den Vorstadt-Ghettos abnimmt, erneut angefacht wird oder sich am Ende wieder in antisemitischen Akten äußert, wird man in den kommenden Tagen und Wochen sehen. Momentan haben in der jüdischen Gemeinde Straßburgs viele ein mulmiges Gefühl.

Kommentar

Der »Tages-Anzeiger« und das Geraune von der jüdischen Lobby

Die Zeitung unterstellt, erst eine Intervention des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes habe zur Absage einer Veranstaltung mit Francesca Albanese durch die Uni Bern geführt. Dabei war die Intervention richtig

von Michael Thaidigsmann  15.09.2025

Argentinien

Raubkunst in der Immobilienanzeige

Die Tochter eines Naziverbrechers wollte ihre Villa verkaufen und führte Ermittler auf die Spur einer gestohlenen Kunstsammlung

von Andreas Knobloch  13.09.2025

München/Gent

Charlotte Knobloch spricht von »historischem Echo«

Nach der Ausladung des israelischen Dirigenten Lahav Shani von einem Musikfestival meldet sich Charlotte Knobloch mit deutlichen Worten

 11.09.2025

Italien

Jüdisches Touristen-Paar in Venedig attackiert

Die Täter schrien »Free Palestine«, bevor sie die Ehefrau mit einer Flasche attackierten und ihren Ehemann ohrfeigten

 11.09.2025

Georgien

Sicher und schön

Der Kaukasus-Staat pflegt Erbe und Zukunft der Juden. Und bietet atemberaubende Natur. Ein Besuch

von Michael Khachidze  11.09.2025

Belgien

Argerich, Maisky, Schiff empört über Gent-Festival

Bekannte jüdische und nichtjüdische Musiker haben eine Petition gestartet, um gegen die Ausladung der Münchner Philharmoniker und ihres Dirigenten Lahav Shani zu protestieren

 11.09.2025

Bundesamt für Statistik

Dieser hebräische Vorname ist am beliebtesten bei Schweizer Eltern

Auch in der Schweiz wählen Eltern weiterhin häufig biblische Namen für ihr Neugeborenes

von Nicole Dreyfus  10.09.2025 Aktualisiert

Südafrika

Unvergessliche Stimme

Die Schoa-Überlebende Ruth Weiss hat sich als Journalistin, Schriftstellerin und Kämpferin für Menschenrechte einen Namen gemacht. Sie wurde 101 Jahre alt. Ein Nachruf

von Katrin Richter  10.09.2025

Belgien

Aus der Straße des Antisemiten wird die Straße der Gerechten

In Brüssel gibt es jetzt eine Rue Andrée Geulen. Sie ist nach einer Frau benannt, die im 2. Weltkrieg mehr als 300 jüdische Kinder vor den deutschen Besatzern rettete. Doch bei der Einweihung herrschte nicht nur eitel Sonnenschein

von Michael Thaidigsmann  08.09.2025