USA

Welcome, Aliens!

Demonstriert fürs Bleiberecht: Einwanderer aus Lateinamerika in Los Angeles Foto: dpa

Es handelt sich um ein Problem von der Größe einer europäischen Nation: Ungefähr elf Millionen Menschen – so viele Einwohner hat Griechenland – leben derzeit als illegale Einwanderer in den USA. Vielleicht sind es auch zwölf, vielleicht 13, so genau kann das niemand wissen. Offiziell werden sie als »undocumented aliens« bezeichnet. Die meisten von ihnen stammen aus lateinamerikanischen Ländern, viele aus Mexiko. Deswegen liegt das Schicksal jener »aliens« vor allem den Amerikanern hispanischer Herkunft am Herzen.

Die Illegalen sind in der Regel bitterarm. Manche von ihnen haben zwei oder drei Jobs, um ihre Familien über Wasser zu halten. Ihre Kinder haben häufig keine Krankenversicherung, weil ihnen der Zugang zu Medicaid, der staatlichen Krankenkasse für Arme, verwehrt ist.

Der Bundesstaat Arizona – in dessen Grenzen lebten im April 2010 vielleicht 460.000 »Illegale« – hat vor drei Jahren ein höchst umstrittenes Gesetz verabschiedet: Es sollte der Polizei in jenem Staat ermöglichen, Leute auf der Straße anzuhalten und nach ihren Papieren zu fragen. Das Justizministerium in Washington hat gegen dieses Landesgesetz geklagt.

green card Am 17. April haben acht Senatoren – vier Demokraten, vier Republikaner – einen neuen gesamtamerikanischen Gesetzesentwurf vorgestellt, den Präsident Barack Obama mit ein paar Modifikationen vielleicht schon Mitte Juni unterzeichnen wird. Der Entwurf ist 844 Seiten lang, aber sein Kerngedanke passt in einen einfachen Satz. Man zieht eine gedachte Linie in den Sand: Jene, die sich innerhalb der Linie befinden, sind drinnen, die anderen müssen draußen bleiben.

Also: Die elf Millionen »undocumented aliens« können – sofern sie sich keiner Vergehen schuldig gemacht haben, eventuell fällige Steuern begleichen und eine einmalige Geldbuße von 500 Dollar zahlen – binnen zehn Jahren die begehrte Green Card erwerben und hinterher die amerikanische Staatsbürgerschaft.

Für Minderjährige wird dieser Prozess erheblich abgekürzt: Sie dürfen schon nach fünf Jahren Green Cards erwerben, und die Geldbuße entfällt. Ehegatten und Kinder der solcherart legalisierten »undocumented aliens« sollen nachziehen dürfen.

Gleichzeitig wird Einwanderung in die Vereinigten Staaten künftig strenger begrenzt und geregelt. Nur Hochbegabte sind von dem Quotensystem ausgenommen, das Ausbildungen in den Natur- und Ingenieurswissenschaften und Mathematik belohnt. Es ist ein politischer Kompromiss, mit dem sowohl Linksliberale als auch Konservative leben können.

Enthusiasmus Was sagen nun jüdische Organisationen in Amerika zu diesem Gesetzesentwurf? Sie begrüßen ihn ausnahmslos. Richard Foltin, der Einwanderungsexperte des American Jewish Committee, sagt, die Gesetzesinitiative der acht Senatoren zeige, »dass sie Einwanderung als Schlüsselfaktor erkannt haben, der dazu beiträgt, Amerikas Wirtschaftskraft und seinen demokratischen Pluralismus zu stärken«. Foltin rühmt vor allem den humanitären Aspekt des Gesetzesentwurfes zur Einwanderungsreform: »Wenn man Einwanderern hilft, sich leichter mit ihren Lieben wiederzuvereinigen, fördert das ein starkes soziales Netzwerk in unseren Gemeinschaften.«

Der Jewish Council of Public Affairs, eine Dachorganisation, die amerikaweit 14 verschiedene Organisationen zusammenbringt, begründet seine Unterstützung für das neue Gesetz einerseits humanitär: Illegale Einwanderer hätten mit vielen sozialen Nachteilen zu kämpfen, sie seien in großer Gefahr, ausgebeutet oder sogar misshandelt zu werden und genössen keine sozialen Vorteile, obwohl sie durchaus Steuern bezahlten.

Andererseits argumentiert der Council dann aber auch wieder ganz pragmatisch: Studien aus dem Jahr 1986 zeigten, »dass Arbeiter mit legalem Status mehr verdienen, mehr ausgeben und höhere Steuern zahlen« als Illegale. Dies komme unter dem Strich allen zugute. Auch darum sei Einbürgerung eine wirksame Methode zur Armutsbekämpfung.

Flüchtlinge Die ehrwürdige Hebrew Immigrant Aid Society ist naturgemäß ebenfalls für das neue Gesetzesvorhaben. Die Organisation wurde 1881 in New York gegründet, um jüdischen Flüchtlingen aus dem zaristischen Russland zu helfen. Heute ist sie rund um den Globus damit beschäftigt, Flüchtlingen beizustehen, nicht nur jüdischen.

Geradezu begeistert äußert sich das Religious Action Center of Reform Judaism über den Gesetzesentwurf. Es nennt die Vorschläge der acht Senatoren einen »wichtigen Schritt hin zu der längst fälligen Verabschiedung einer Reformgesetzgebung. Wir spenden den Senatoren Beifall für ihre unermüdliche Arbeit und loben ihre Überparteilichkeit bei einem Thema, das Amerikaner aller Altersgruppen, Rassen, Nationen und politischen Parteien so eng berührt«.

David Saperstein, vielleicht der berühmteste Reformrabbiner seiner Generation, erinnerte kürzlich bei einer Demonstration in Washington daran, dass die Tora uns an 36 Stellen befiehlt, den Fremdling zu lieben. »Können wir Gottes Befehl mit einer Politik in Einklang bringen, die Familien jahrzehntelang voneinander trennt – mit dem Wissen, dass Männer und Frauen, die nichts weiter wollen, als für ihre Familien zu sorgen, verwundbar gelassen und ausgebeutet werden?«, fragte er rhetorisch. Die Antwort ist natürlich ein donnerndes »Nein«.

Eine herzlose Anmerkung könnte man freilich am Schluss doch noch machen: Das neue Gesetz kommt zu einem Zeitpunkt, da sich das Hauptproblem von selbst erledigt hat. De facto gibt es keine Einwanderung aus Mexiko mehr; ja, mittlerweile haben sogar Mexikaner angefangen, über die Grenze zurückzukehren. Denn Mexiko boomt (trotz Drogenkrieg), während die Arbeitslosenquote in den Vereinigten Staaten nach wie vor hoch ist.

Kommentar

Der »Tages-Anzeiger« und das Geraune von der jüdischen Lobby

Die Zeitung unterstellt, erst eine Intervention des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes habe zur Absage einer Veranstaltung mit Francesca Albanese durch die Uni Bern geführt. Dabei war die Intervention richtig

von Michael Thaidigsmann  15.09.2025

Argentinien

Raubkunst in der Immobilienanzeige

Die Tochter eines Naziverbrechers wollte ihre Villa verkaufen und führte Ermittler auf die Spur einer gestohlenen Kunstsammlung

von Andreas Knobloch  13.09.2025

München/Gent

Charlotte Knobloch spricht von »historischem Echo«

Nach der Ausladung des israelischen Dirigenten Lahav Shani von einem Musikfestival meldet sich Charlotte Knobloch mit deutlichen Worten

 11.09.2025

Italien

Jüdisches Touristen-Paar in Venedig attackiert

Die Täter schrien »Free Palestine«, bevor sie die Ehefrau mit einer Flasche attackierten und ihren Ehemann ohrfeigten

 11.09.2025

Georgien

Sicher und schön

Der Kaukasus-Staat pflegt Erbe und Zukunft der Juden. Und bietet atemberaubende Natur. Ein Besuch

von Michael Khachidze  11.09.2025

Belgien

Argerich, Maisky, Schiff empört über Gent-Festival

Bekannte jüdische und nichtjüdische Musiker haben eine Petition gestartet, um gegen die Ausladung der Münchner Philharmoniker und ihres Dirigenten Lahav Shani zu protestieren

 11.09.2025

Bundesamt für Statistik

Dieser hebräische Vorname ist am beliebtesten bei Schweizer Eltern

Auch in der Schweiz wählen Eltern weiterhin häufig biblische Namen für ihr Neugeborenes

von Nicole Dreyfus  10.09.2025 Aktualisiert

Südafrika

Unvergessliche Stimme

Die Schoa-Überlebende Ruth Weiss hat sich als Journalistin, Schriftstellerin und Kämpferin für Menschenrechte einen Namen gemacht. Sie wurde 101 Jahre alt. Ein Nachruf

von Katrin Richter  10.09.2025

Belgien

Aus der Straße des Antisemiten wird die Straße der Gerechten

In Brüssel gibt es jetzt eine Rue Andrée Geulen. Sie ist nach einer Frau benannt, die im 2. Weltkrieg mehr als 300 jüdische Kinder vor den deutschen Besatzern rettete. Doch bei der Einweihung herrschte nicht nur eitel Sonnenschein

von Michael Thaidigsmann  08.09.2025