Argentinien

Weisz, Berliner, Rosenfeld

Wo sind sie? Auch 34 Jahre nach dem Militärputsch sind Tausende von Argentiniern noch immer verschwunden – darunter Kinder von aus Deutschland geflohenen Juden. Foto: Reuters

Mehr als 34 Jahre hatten Betroffene und Angehörige darauf warten müssen. In der vergangenen Woche verurteilte ein Gericht in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires sieben Verantwortliche der Militärdiktatur von 1976 bis 1983, darunter die ehemaligen Offiziere Héctor Gamen und Hugo Pascarelli, wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Teil zu lebenslanger Haft. Der Hauptangeklagte Pedro Durán Sáenz, Kommandant des Folterzentrums »El Vesubio«, entging seiner Strafe. Er starb während des Verfahrens.

Die damals 30-jährige Deutsche Elisabeth Käsemann wurde auch in »El Vesubio« gefoltert. Sie war 1968 nach ihrem Politikstudium in Berlin zunächst nach Bolivien, später nach Argentinien gegangen und arbeitete dort in Armenvierteln. Nach dem Putsch der Militärs im März 1976 half sie Verfolgten, außer Landes zu flüchten. Ein Jahr später wurde sie festgenommen.

hakenkreuze Das Folterzentrum gehörte zu den berüchtigtsten der rund 600 in ganz Argentinien. Überlebende schätzen, dass hier mindestens 1.500 Menschen »verschwunden« sind. Die Gefangenen nannten die idyllische Villa im Kolonialstil »die Hölle«. Die Wände waren mit Hakenkreuzen und Schriftzügen wie »Viva Hitler« bemalt.

In der Nacht zum 24. Mai 1977 wurde Käsemann mit 15 anderen nach Monte Grande, einen Vorort, verschleppt und ermordet. Die Militärs sprachen von einem Feuergefecht mit Terroristen. Käsemanns Leiche wies vier Schüsse aus kurzer Distanz in Genick und Rücken auf.

Sofort nach dem Putsch begann die Jagd auf sogenannte subversive Kräfte. Menschenrechtsorganisationen gehen von 30.000 Ermordeten in den Jahren bis 1983 aus. Die meisten Opfer sind bis heute spurlos verschwunden. Nach dem Ende der Diktatur waren zwar einige Mitglieder der Militärjunta zu Gefängnisstrafen verurteilt worden, doch unter dem Druck der Streitkräfte wurde die Strafverfolgung bereits nach kurzer Zeit eingestellt und Amnestiegesetze erlassen.

Erst der im Oktober 2010 verstorbene Präsident Néstor Kirchner schaffte diese per Dekret 2003 ab. Das Oberste Gericht bestätigte zwei Jahre später die Entscheidung. Seitdem sind viele Verfahren gegen mutmaßliche Täter eingeleitet worden. 1.755 Personen wurden bisher angeklagt, 191 von ihnen zu teils hohen Haftstrafen verurteilt, nur 15 freigesprochen.

Nebenkläger Deutschland trat im »Vesubio«-Prozess als Nebenkläger auf. Damals aber blieben die deutschen Diplomaten am Rio de la Plata untätig. Während andere westliche Regierungen mit Erfolg auf die Freilassung ihrer Bürger drängten, blieben die bundesdeutschen Inhaftierten ihrem Schicksal überlassen.

Selbst ein detaillierter Bericht der mit Käsemann inhaftierten britischen Theologiestudentin Diana Houston Austin, der dem Auswärtigen Amt einen Monat vor der Ermordung Käsemanns mit der dringenden Bitte um Hilfe vorlag, blieb folgenlos. Begriffe wie »unterlassene Hilfeleistung« beschreiben nur unzureichend die Haltung der Diplomaten, sagen Kritiker. Die Handelsbeziehungen zu Argentinien sollten wohl nicht belastet werden.

»Humanität wie Demokratie werden hier bürokratisch verwaltet, und ein verkaufter Mercedes wiegt zweifellos mehr als ein Leben«, beklagte Elisabeths 1996 verstorbener Vater, der evangelische Theologe Ernst Käsemann, die Haltung der Bundesregierung. Während die USA wegen der Menschenrechtsverletzungen ein Rüstungsembargo gegen Argentinien verhängten, wurde Deutschland zum wichtigsten Waffenlieferanten der Militärdiktatur.

Knapp 100 Deutsche und Deutschstämmige gerieten in die Fänge der Diktatur – kein einziger wurde gerettet. Im Jahr 1999 stellte die »Koalition gegen Straflosigkeit« Anzeige gegen argentinische Militärs. Das Amtsgericht Nürnberg-Fürth nahm Ermittlungen in mehreren Fällen von »verschwundenen« deutschstämmigen jüdischen Argentiniern auf.

staatsbürgerschaft Die Eltern von Leonor Marx, Alfredo Jose Berliner, Juan Miguel Thanhauser, Alicia Oppenheimer, Walter Claudio Rosenfeld und Marcelo Weisz waren in den 30er-Jahren vor den Nazis nach Argentinien geflohen. Als »Auslandsjuden« war ihnen von den Nazis die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen worden. Das Verfahren wurde 2004 eingestellt.

Der antisemitische Charakter der argentinischen Militärdiktatur ist bisher wenig beleuchtet. Denn das Leben der jüdischen Gemeinschaft selbst wurde in den Jahren der Diktatur kaum gestört. Die Militärregierungen ließen die politischen und sozialen Institutionen der jüdischen Gemeinde intakt. Die antisemitische Dimension im Unterdrückungsapparat konzentrierte sich vielmehr auf die Verfolgung subversiver Aktivitäten Verdächtiger und ihrer Familien.

opfer Zwar wurde niemand deswegen festgenommen, weil er Jude war, aber jüdische Gefangene wurden wegen ihres Jüdischseins oft besonders grausam gefoltert. Gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil (rund ein Prozent) sind Juden unter den Verfolgten überrepräsentiert (mehr als fünf Prozent). Das unterscheidet Argentinien von anderen repressiven Regimes in Südamerika dieser Zeit.

Schätzungen gehen von 1.500 bis 2.000 jüdischen Opfern der Militärdiktatur aus; darunter zahlreiche Intellektuelle und politische Aktivisten, wie der Filmemacher Raymundo Gleyzer. Ideologischer Nährboden war der katholische Nationalismus – befeuert durch Zeitschriften wie »Cabildo«, die eine »jüdische Weltverschwörung« am Werk sahen und eine »neue Ordnung« propagierten.

Bei einer Gedenkveranstaltung für die jüdischen Opfer des staatlichen Terrors am 2. Dezember 2007 erklärte der Menschenrechtsbeauftragte der Regierung, Eduardo Luis Duhalde: »Es stimmt, dass niemand oder fast niemand Opfer wurde, weil er Jude war, genauso wie es stimmt, dass Jude sein bedeutete, dass seine Peiniger mit besonderer Grausamkeit bei den Folterungen und der Ermordung vorgingen.«

Zürich

Goldmünze von 1629 versteigert

Weltweit existieren nur vier Exemplare dieser »goldenen Giganten«. Ein Millionär versteckte den Schatz jahrzehntelang in seinem Garten.

von Christiane Oelrich  10.11.2025

Raubkunst

Zukunft der Bührle-Sammlung ungewiss

Die Stiftung Sammlung E. G. Bührle hat ihren Stiftungszweck angepasst und streicht die Stadt Zürich daraus

von Nicole Dreyfus  10.11.2025

Wien

Österreichs Regierung mit neuer Strategie gegen Antisemitismus

KI-gestützte Systeme zum Aufspüren von Hate Speech, eine Erklärung für Integrationskurse, vielleicht auch Errichtung eines Holocaust-Museums: Mit 49 Maßnahmen bis zum Jahr 2030 will Wien gegen Antisemitismus vorgehen

 10.11.2025

Jerusalem

Zerstrittene Zionisten

Der Zionistische Weltkongress tagt zum 39. Mal seit seiner Gründung im Jahr 1897 durch Theodor Herzl. Doch das Treffen droht zum Fiasko für die Organisation zu werden. Die Hintergründe

von Joshua Schultheis  10.11.2025

Medienbericht

Katar soll mutmaßliches Missbrauchsopfer von Karim Khan ausspioniert haben

Das Emirat scheint sich in den Skandal um den Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs eingemischt zu haben, wie Recherchen nun zeigen

 07.11.2025

Kommentar

In Zohran Mamdanis New York werden Juden geduldet, nicht akzeptiert

»Liberale Zionisten« müssen in der Regierung des neuen Bürgermeisters keinen »Lackmustest« fürchten. Was beruhigend klingen soll, zeigt, wie stark der Antisemitismus geworden ist - nicht zuletzt dank Mamdani

von Gunda Trepp  07.11.2025 Aktualisiert

Hurrikan Melissa

»Ich habe seit einer Woche nicht geschlafen«

Wie ein Rabbiner vom Wirbelsturm in Jamaika überrascht wurde – und nun selbst Betroffenen auf der Insel hilft

von Mascha Malburg  06.11.2025

Kommentar

Wo Israel antritt, rollt der Ball ins moralische Abseits

Israelische Spieler und Fußballfans werden schon lange dafür diskriminiert, dass sie von anderen gehasst werden.

von Louis Lewitan  06.11.2025

Kommentar

Warum Zürichs Entscheid gegen die Aufnahme von Kindern aus Gaza richtig ist

Der Beschluss ist nicht Ausdruck mangelnder Menschlichkeit, sondern das Ergebnis einer wohl überlegten Abwägung zwischen Sicherheit, Wirksamkeit und Verantwortung

von Nicole Dreyfus  06.11.2025