Kirgistan

Warten und Bangen

Trauer um die bei den Unruhen getöteten Menschen vor den Toren der Hauptstadt Bischkek: Jetzt gesellen sich Angst und Ungewissheit Zukunft hinzu. Foto: Reuters

Als es Anfang des Monats in der kirgisischen Hauptstadt zu gewalttätigen Auseinandersetzun- gen kam, hielten die Mitglieder der kleinen jüdischen Gemeinde des zentralasiatischen Landes den Atem an und warteten ab.

Die Schule der jüdischen Bildungsorganisation ORT in der Hauptstadt Bischkek verriegelte ihre Türen und schickte die Schüler nach den Pessachferien sofort wieder nach Hause. Da der Betrieb der öffentlichen Verkehrsmittel eingestellt und das gesamte städtische Leben in Unordnung ist, waren an diesem Morgen nur drei Menschen zum Gottesdienst in die Synagoge gekommen. In der Zwischenzeit telefonierten die jüdischen Gemeindevertreter hektisch hin und her, um sich gegenseitig das Neueste zur Lage zu berichten.

Der Überfall auf die Synagoge von Bischkek war für die jüdische Gemeinde das schrecklichste Ereignis in diesen Tagen. Die Angreifer warfen Molotowcocktails gegen das einstöckige Gebäude und versuchten, es in Brand zu setzen. Die meisten Einwohner Kirgisistans sind Muslime, doch Antisemitismus war bislang kein Thema.

In der Nähe des Präsidentenpalastes, einem beliebten Versammlungsort, rollten Protestierende ein antisemitisches Spruchband aus. Ein einheimischer Journalist berichtete der Jewish Telegraphic Agency, wie eine Gruppe von betrunkenen jungen Leuten von ihm wissen wollte, ob er jüdisch sei. Der Anführer der Gruppe machte eine herabsetzende Bemerkung über Juden.

alarmierend »Es ist das erste Mal in der Geschichte unserer Gemeinde, dass wir solche deutliche Zeichen von Antisemitismus erleben«, sagte der Oberrabbiner des Landes, Arieh Reichman, nach dem Angriff auf die Synagoge. »Kirgisistan ist immer gastfreundlich gewesen. Während der Sowjetzeit und auch unter seinen späteren Führern war es stets tolerant. Daher ist das, was jetzt geschieht, äußerst alarmierend.«

Während der Revolte stürmten in den ersten Apriltagen oppositionelle Demonstranten das Gelände des Präsidentenpalastes, überwältigten die Polizei und brachten die Regierung unter ihre Kontrolle. Präsident Kurmanbek Bakijew floh; mehr als 40 Menschen kamen ums Leben. Die ehemalige Außenministerin Rosa Otunbajewa führt derzeit eine Übergangsregierung. Noch ist nicht klar, wohin diese schnelle Revolution das Land führt – oder was sie für die schätzungsweise 1.500 Juden, von denen die meisten in Bischkek leben, bedeutet. Anfang der Woche haben erneut Unruhen begonnen.

Blogger Einige Mitglieder der Gemeinde spekulieren darüber, ob der Ausbruch von Antisemitismus, der den Volksaufstand begleitete, von der Feindschaft gegen Evgeny Gu- revich, einen 33-jährigen amerikanischen Juden, der zum gestürzten Präsidenten enge Beziehungen unterhielt, ausgelöst wurde. Gurevich ist der Gründer der MGN Consulting Group und war ein einflussreicher Geldgeber des Präsidenten und seiner Familie. Seit im März ein römisches Gericht wegen des Verdachts auf Geldwäsche und Betrug einen Haftbefehl gegen Gurevich ausgestellt hatte, berichteten kirgisische Blogger und Medien nonstop über die Beziehung zwischen den beiden Männern. Gegner des kirgisischen Regimes nutzten diese Nachrichten, um Bakijew anzuklagen, weil er mit Verbrechern Umgang pflege. Es ist nichts darüber bekannt, ob Gurevich Kontakte in die jüdische Gemeinde in Kirgisistan hat.

Geschichte Die Vorfahren der meisten kirgisischen Juden flohen im Zweiten Weltkrieg vor den Nazis aus Russland, der Ukraine und Weißrussland. Viele arbeiteten im Gesundheitswesen. Nach zahlreichen Berichten gab es selbst in der Zeit des staatlich geförderten Antisemitismus in der entlegenen Sowjetrepublik nur wenig Feindseligkeit gegen Juden. Auch als das Land nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion unabhängig wurde, lebten die kirgisischen Juden in Sicherheit. Obwohl drei Viertel der rund 5,5 Millionen Einwohner des Landes Muslime sind, konnte der radikale Islamismus nie wirklich Fuß fassen.

Am 9. April reiste Alex Katz, der für die ehemalige Sowjetregion zuständige Leiter der Jewish Agency, nach Kirgistan, um die Lage einzuschätzen. Nach seinen Worten ist es auf den Straßen ruhig, es besteht eine nächtliche Ausgangssperre und die Flughäfen des Landes sind in Betrieb. Die Jewish Agency berichtete, sie stehe in Kontakt mit jenen Juden, die sich in verschiedenen Stadien ihres Alija-Prozesses befinden, und sie habe ihr Hilfsangebot auf andere Juden ausgedehnt, die sich für eine Auswanderung nach Israel interessierten.

instabil »Die Situation in der Stadt bleibt instabil«, sagt Oberrabbiner Reichman. »Alle Gemeindevertreter stehen untereinander und mit den Mitgliedern telefonisch in Kontakt. Eine israelische Stiftung hat uns humanitäre Hilfe angeboten.«

Über die Hälfte der Juden von Bischkek lebt von Zuwendungen des örtlichen Hesed-Zentrums, das vom American Jewish Joint Distribution Committee (JDC) unterhalten wird. Laut Asher Ostrin, dem stellvertretenden Leiter für die Tätigkeit des JDC in der ehemaligen Sowjetunion, bemühe sich die Gemeinde sicherzustellen, dass die jüdischen Bedürftigen versorgt werden.

»Seit sich die Krawalle ausbreiteten und sich zu einer richtigen Revolution ausgewachsen haben, stehen wir ständig in unmittelbarem Kontakt mit der Gemeinde«, meldete Ostrin vergangene Woche nach New York. »Aus der jüdischen Bevölkerung wurden keine Verletzten gemeldet. Wichtig für uns war, zu erfahren, dass die Hilfe für die Senioren nicht unterbrochen wurde.«

»Unser Gebäude wird bewacht«, berichtet der Direktor der ORT-Schule von Bischkek, Vladimir Katsman. »Es ist schwieriger und teuer, die Sicherheitsleute in diesen Tagen zum Kommen zu bewegen, aber wir haben das Problem gelöst.« Die nächstgelegene israelische Botschaft im Nachbarland Kasachstan erklärte, sie verfolge die Ereignisse mit großer Aufmerksamkeit. Die gestürzte Regierung Kirgistans galt weithin als repressives Regime. Sie war prowestlich eingestellt, und die Vereinigten Staaten unterhalten einen riesigen Luftstützpunkt in Kirgistan, der für den Krieg der NATO im Nachbarland Afghanistan von großer Bedeutung ist. Es ist unklar, inwieweit die Nähe, die das frühere Regime zu den USA pflegte – von der Opposition angeprangert, in den Beschreibungen von US-Beobachtern lediglich eine pragmatische Haltung –, die Beziehung des Westens zur neuen kirgisischen Regierung, die enge Beziehungen mit Moskau unterhält, beeinträchtigt.

Opposition Erst einmal hat die neue Regierung verkündet, US-Flugzeuge würden das Land auf dem Weg nach Afghanistan weiterhin überfliegen dürfen. Oppositionsmitglieder, die vor zwei Wochen die Macht übernommen haben, erklärten, sie wollten eine Regierung auf Basis von »Gerechtigkeit und Demokratie« schaffen.

»In Bischkek wurden Juden auch zu Sowjetzeiten immer gut behandelt«, sagt Oberrabbiner Reichman. »Wir hoffen, dass es so bleiben wird und jüdisches Leben hier gedeihen kann, egal welche Regierung an der Macht ist«.

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