Paris

»Es ist sehr schwer«

Blumen zum Gedenken an die Opfer der Geiselnahme Foto: Getty Images

Freitag, der 9. Januar 2015, kurz nach Mittag: Im Pariser Vorort Vincennes geht Claire Naturkrejt zum Hyper Cacher, einem koscheren Supermarkt. Als sie zum Bezahlen an der Kasse steht, sieht sie plötzlich, wie ein Mann mit einer Kalaschnikow in den Laden rennt und brüllt: »Das ist ein Attentat!«

»Ich weiß nicht, warum, aber irgendwie wusste ich in diesem Moment, dass mein letztes Stündchen noch nicht geschlagen hatte«, erinnert sich Naturkrejt. Zusammen mit zwei anderen gelingt es ihr, vom Attentäter unbemerkt, über einen Hinterausgang ins Freie zu fliehen.

Einige Stunden später, kurz nach 17 Uhr, stürmt eine Antiterroreinheit der Polizei das Gebäude. Amedy Coulibaly, der Attentäter, wird erschossen, die verbliebenen Geiseln werden befreit. Yohan Cohen, Yoav Hattab, Philippe Braham und François-Michel Saada hatte der Attentäter kaltblütig umgebracht, als sie versuchten, sich ihm zu widersetzen.

Coulibaly hatte nicht nur fünf Waffen, sondern auch mehrere Sprengsätze dabei. Sein Motiv: Juden zu töten, um sie für die Politik Israels zu bestrafen. Das sagt er noch während der Geiselnahme dem Nachrichtensender BFM am Telefon.

Claire Naturkrejt Auch wenn sie heute keine Albträume mehr plagen, bleibt das Attentat vor vier Jahren für Claire Naturkrejt ein einschneidendes Erlebnis. Bis heute wagt sie es nicht, wieder zum Hyper Cacher zu gehen. »Ich kann es einfach nicht; ich wechsle dort immer die Straßenseite.«

Nach dem Anschlag benutzt sie aus Angst monatelang keine öffentlichen Verkehrsmittel, und wenn ihr dunkelhäutige oder islamisch gekleidete Menschen über den Weg laufen, wird sie misstrauisch. Auch ihr Engagement in Vereinen und Gruppen fährt sie zurück.

»Ich lebe seit 40 Jahren in Paris, ich mag Frankreich und seine Kultur. Aber als Jüdin hier zu leben, ist sehr schwer nach dem, was hier in den letzten Jahren alles passiert ist«, sagt die heute 65-Jährige, die im belgischen Lüttich geboren und aufgewachsen ist.

Naturkrejt beklagt die Gleichgültigkeit der nichtjüdischen Öffentlichkeit in Frankreich gegenüber dem grassierenden Judenhass. »Man muss es so deutlich sagen: Es mangelt an Solidarität mit uns Juden. Die Medien berichten oft sehr einseitig. Über den Antisemitismus wird in der Gesellschaft zu wenig geredet.«

schulen Auch an den staatlichen Schulen spreche man kaum über das Thema, die Wissenslücken von Schülern über das Judentum und den Holocaust seien gewaltig, und Frankreichs Juden fühlten sich in gewisser Weise den Angriffen schutzlos ausgeliefert, sagt Naturkrejt.

Nach dem Anschlag vor fünf Jahren riet sie ihren Söhnen, Frankreich und Europa zu verlassen – allerdings ohne Erfolg. »Ich spreche nicht mehr oft über das Geschehene. Es bedrückt mich zu sehr, obwohl ich eigentlich nie von Albträumen geplagt werde. Aber ich will nicht immer und immer wieder darüber reden, nicht darauf reduziert werden«, sagt sie.

Ihrer Mutter, die im vergangenen Jahr in Lüttich gestorben ist, hat sie nie verraten, dass sie während des Anschlags im Hyper Cacher war. »Warum sollte ich eine alte Frau mit so etwas Schrecklichem belasten? Sie hätte sich nur unnötig Sorgen um mich gemacht und doch nichts tun können.«

Wer Claire Naturkrejt fragt, warum sie sich an jenem 9. Januar 2015 so sicher war, das Attentat zu überleben, dem sagt sie: »Einer meiner Söhne wollte mir an jenem Freitag etwas Wichtiges sagen. Er war mit seiner Frau zum Ultraschall beim Arzt. Sie hatten es zuvor schon mehrmals mit künstlicher Befruchtung versucht, ohne Erfolg. Und an diesem Tag bekamen sie dann die Nachricht. Es hatte geklappt, meine Schwiegertochter war schwanger, ein Mädchen. Es war ihr erstes Kind. Ich hatte so darauf gehofft, dass es endlich klappen würde. Ich habe mich für die beiden so gefreut. Manchmal liegen Freude und Leid eben ganz eng beisammen.«

* * * * * * * * * *

Haim Musicant ist ein Mann klarer Worte. »Das können Sie alles so schreiben«, sagt er bestimmt. Fast zwei Jahrzehnte lang führte er die Geschäfte des französisch-jüdischen Dachverbandes CRIF. Mu­sicant meint: »Die große Mehrheit der französischen Juden fühlt sich hier nicht mehr sicher.«

Für ihn ist der Antisemitismus in Frankreich kein neues Phänomen. »Den Beginn der aktuellen Krise kann man ziemlich genau datieren. Es fing im Oktober 2000 an, als die Palästinenser die Zweite Intifada gegen Israel begannen. Urplötzlich wurden auch Frankreichs Juden zur Zielscheibe für all jene, die ihren Hass auf Israel ausleben wollten.«

Tagtäglich kam es in jenem Oktober des Jahres 2000 in Paris und Umgebung zu gewaltsamen Übergriffen gegen Juden. Molotowcocktails und Brandbomben wurden auf und in Synagogen geworfen, jüdische Schüler mit Steinen beworfen und Juden in der U-Bahn angepöbelt. Bis heute traue sich fast keiner mehr, in Paris auf der Straße mit Kippa auf dem Kopf herumzulaufen, sagt Musicant.

Bis zu jenem Moment hätten die französischen Juden fälschlicherweise geglaubt, der Antisemitismus sei nach Auschwitz überwunden. Doch dies habe sich als Trugschluss erwiesen, meint der Journalist und Buchautor. Seit 2006 seien in Frankreich 15 Juden aus antisemitischen Motiven getötet worden.

Darüber werde aber an den staatlichen Schulen und in den Medien kaum geredet. »Es gibt dort keine echte Erinnerungsarbeit. Die junge Generation weiß viel zu wenig über Auschwitz und noch weniger über das Judentum in Frankreich«, sagt Musicant und fügt an: »Die französische Gesellschaft ist äußerst gleichgültig geworden gegenüber dem Leid, das Juden angetan wird« – gerade weil es »die Juden« seien.

muslime »Die Juden sind im Frankreich von heute nicht mehr en vogue wie noch vor 50 Jahren. Heute sind das die Muslime«, erklärt Musicant und gibt ein Beispiel: 1990 seien noch 500.000 Menschen auf die Straße gegangen, um gegen die Schändung eines jüdischen Friedhofs zu protestieren. Heutzutage sei das schlicht undenkbar.

Zwar habe Frankreich noch die drittgrößte jüdische Gemeinde weltweit nach Israel und den USA, aber der Anteil der Juden an der französischen Gesamtbevölkerung sei mit gut einem halben Prozent verschwindend gering, und die jüdische Wählerschaft sei für die Politik weitaus weniger wichtig als die muslimische.

Musicant skizziert eine jüdische Gemeinschaft, die immer mehr ausgegrenzt werde und isoliert sei. Tausende Juden hätten Frankreich in den vergangenen Jahren den Rücken gekehrt. Und jene, die blieben, seien misstrauischer geworden gegenüber dem Staat und seinen Institutionen, so der Journalist. »Hier in Paris gehen immer weniger jüdische Kinder auf staatliche Schulen, und allein 5000 besuchen katholische Privatschulen. Das sagt doch alles.«

Es gebe keinen echten politischen Willen, den Antisemitismus zu bekämpfen, beklagt er. Zwar seien die Regierenden spätestens nach den Terroranschlägen in Paris und Toulouse etwas sensibler geworden, was das Problem angeht. Meist aber begnüge man sich mit einer Erklärung, in der die Anschläge auf das Schärfste verurteilt würden, und gehe anschließend wieder zur Tagesordnung über.

sicherheit Frankreichs Juden bräuchten nicht warme Worte, sondern Sicherheit, sagt Musicant und verlangt einen Aktionsplan für Bildung, Justiz und Polizei. »Es muss Schluss sein damit, dass man die Motive antisemitischer Gewalttaten verschweigt oder unter den Teppich kehrt, wie das leider öfter passiert. Man muss sie benennen. Es heißt immer, die Tat sei von ›jungen Leuten‹ aus ›Problemvierteln‹ begangen worden, oder von einem ›Verrückten‹. Dass es radikalisierte Muslime waren, will man nicht laut sagen, damit man ja keiner gesellschaftlichen Gruppe auf den Schlips tritt.«

Auch gegenüber der Protestbewegung der sogenannten Gelbwesten, die im November und Dezember ganz Frankreich aufschreckte, zeigt sich Musicant kritisch: »Die Leute – und nicht nur die in der jüdischen Gemeinschaft – haben den Eindruck, dass es keine Autorität mehr gibt, dass die politische Führung die Kontrolle verliert.« Unter den Protestierenden seien auch solche gewesen, die Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron als einen »Mann der Reichen« bezeichnet hätten. »Und weil Macron früher sein Geld bei der Banque Rothschild verdient hat, gilt er in gewissen Kreisen als ›Präsident der Juden‹«, sagt Musicant.

Die Ausschreitungen in Paris führten dazu, dass das Entzünden von Chanukkaleuchtern auf öffentlichen Plätzen abgesagt werden musste. Und Haim Musicants Vater, der in Toulouse lebt, habe neulich eine SMS vom Gemeinderabbiner bekommen: »Die Synagoge sei vorerst aus Sicherheitsgründen geschlossen, wegen der Demonstrationen der Gelbwesten. Kurzum, nirgendwo ist das Klima für uns Juden besonders gut im Moment.«

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Simha Lévy (Name von der Redaktion geändert) möchte weg aus Frankreich. »Im Laufe des Jahres werde ich Alija machen. Ich weiß nur noch nicht, wie ich es meinen Eltern beibringe«, sagt die 38-jährige Pariserin, die im Film- und Kulturbereich arbeitet und in vielen jüdischen und nichtjüdischen Verbänden mitarbeitet.

»So, wie man hier in Frankreich mit den Juden umspringt, könnte man mit Nichtjuden niemals umgehen«, ist sie überzeugt. Die politische Linke, vor allem die Partei des Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon, La France insoumise, aber auch die Sozialisten seien wegen ihrer aggressiven Anti-Israel-Haltung für viele französische Juden nicht mehr wählbar. »Der Antizio­nismus gilt mittlerweile vielen Linken und Kulturschaffenden als Ausweis ihres Humanismus«, meint Lévy. Sie selbst fühlt sich als jüdische Linke politisch heimatlos in Frankreich.

Früher habe sie bei Amnesty International und SOS Racisme aktiv mitgearbeitet, aber »heute schaue ich mehr oder weniger zu«, sagt sie leicht resigniert. Vor allem für Frauen sei es nicht leicht in Frankreich, klagt Lévy. Das gelte nicht nur für die Gesellschaft als Ganzes, sondern ebenso innerhalb der jüdischen Gemeinschaft. »Das Ausmaß an Sexismus und Frauenfeindlichkeit ist in vielen Organisationen und Verbänden sehr hoch, auch in jüdischen«, sagt sie.

»Es gab vor ein paar Jahren mal eine Studie der B’nai B’rith, die allerdings nie veröffentlicht wurde«, erzählt Lévy. Die Studie fand heraus, dass bei keiner einzigen jüdischen Organisation in Frankreich eine Frau an der Spitze steht. »Alle werden von Männern geführt, meist sind es ältere Herren, die schon seit Ewigkeiten nichts anderes machen und gar nicht mehr wissen, wie wir Jüngeren denken und was wir wollen.«

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Die drei Personen, mit denen der Autor ausführlich gesprochen hat, sind möglicherweise nicht repräsentativ für die jüdische Gemeinschaft in Paris, obwohl das Lagebild, das sie zeichnen, in vielem übereinstimmt.

ängste Nach den Terroranschlägen ist wieder eine Art Ruhe eingekehrt in Frankreich. Der Pariser Vizebürgermeister Patrick Klug­man pries seine Stadt jüngst als die jüdische Metropole mit der »höchsten Dichte an koscheren Restaurants« weltweit. Das hört sich an, als wäre alles wieder in Ordnung. Wer aber etwas an der glänzenden Oberfläche kratzt, spürt schnell, dass es rumort. Viele Juden fühlen sich mit ihren Sorgen und Ängsten nicht verstanden, weder von den Regierenden noch vom Rest der Gesellschaft.

Fühlte man sich früher als Jude ganz selbstverständlich als Teil der Grande Nation, so gibt es heute eine größer werdende Kluft zwischen jüdischer und nichtjüdischer Welt. Wohin die Reise gehen wird mit Europas zahlenmäßig größter jüdischer Gemeinde, ist noch nicht ausgemacht. Es braucht aber wenig Fantasie, um sich auszumalen, was passieren könnte, wenn es wieder einen Terroranschlag gegen jüdische Einrichtungen gibt, oder wenn es Frankreich nicht schafft, den Antisemitismus zurückzudrängen.

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