Kuba

Verzweiflung und Frust

In Havanna und vielen anderen Städten des Landes demonstrierten am 11. Juli Tausende gegen die Lebensmittel- und Medikamentenknappheit und forderten politische Veränderungen. Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS

Die Proteste vom 11. Juli auf Kuba kamen für viele unerwartet. So auch für die kleine jüdische Gemeinde der Insel. »Aus Sicht der Gemeinde hat niemand erwartet, dass in verschiedenen Orten des Landes gleichzeitig das Volk auf die Straße gehen würde – mit allem Recht. Das hat uns überrascht«, sagt Fidel Babani.

Der 60-jährige Historiker, dessen Großmutter in den 30er-Jahren vor den Nazis aus Deutschland nach Kuba flüchtete, leitet die einzige auf jüdische Themen spezialisierte Bibliothek Kubas. Die befindet sich im Patronato, dem Hauptsitz der Jüdischen Gemeinde Kubas, in Havannas Stadtteil Vedado.

GEWALT An besagtem 11. Juli protestierten in mehreren Städten Kubas Tausende Menschen gegen die Lebensmittel- und Medikamentenknappheit und forderten politische Veränderungen. Die Regierung schien von der nationalen Dimension der Proteste – begünstigt nicht zuletzt durch die sozialen Netzwerke – überrascht. In einer Fernsehansprache machte Kubas Präsident Miguel Diaz-Canel die Vereinigten Staaten und ihre Blockadepolitik für die gravierende wirtschaftliche Situation und für die Anstachelung der Proteste verantwortlich. Er rief dazu auf, »die Revolution auf der Straße zu verteidigen«.

Das kam bei Babani gar nicht gut an. »Es war eine Ansprache, die Öl ins Feuer gegossen hat und praktisch zur Gewalt aufrief. Das war nicht, was die Mehrheit der Kubaner von ihm erwartet hatte: nämlich einen Aufruf zu Frieden und Verständigung. Das war enttäuschend.« In den folgenden Tagen schlug Diaz-Canel versöhnlichere Töne an.

Teilnehmer und Augenzeugen berichteten, die Polizei habe die Proteste zum Teil gewaltsam unterdrückt. Andere sprechen eher von Handgemengen. Es gab viele Festnahmen. »Niemand aus unserer Gemeinde war bei den Protesten, insofern haben wir auch keine Verletzten oder Inhaftierten zu beklagen«, sagt Babani.

Die Gemeinde-Apotheke ist seit einigen Monaten komplett leer.

Die Gründe für die Protestausbrüche sind vielfältig: die Pandemie, die prekäre Versorgungslage, die Warteschlangen, die Stromabschaltungen, die Inflation. Hinzu kommen ein Vertrauensverlust in die politische Führung, dass sie die wirtschaftliche Lage verbessern kann, und das Fehlen anderer Kanäle, Protest zu äußern.

»Die Mehrheit der Kubaner ist der Krise müde, in der sich das Land seit Jahren befindet. Sie sieht vor allem keine Lösung«, sagt Babani. »Die Leute lassen sich nicht mehr mit falschen Versprechungen abspeisen. Die Geduld ist aufgebraucht, und die Verzweiflung hat die einfachen Leute auf die Straße getrieben, damit ihre Beschwerden gehört werden.«

dEVISENLÄDEN Das Land befinde sich in einer sehr kritischen Situation – und die jüdische Gemeinde ist da keine Ausnahme. »Es besteht ein akuter Mangel in jeglicher Hinsicht: Lebensmittel, Medikamente, jegliche andere Produkte – es gibt nichts. Selbst in den Devisenläden gibt es kaum noch etwas. Und was man auf dem Schwarzmarkt findet, übersteigt die Kaufkraft einfacher Kubaner.« So koste Speiseöl auf der Straße das Sechsfache des Ladenpreises, erzählt Babani. Außerhalb Havannas sei der Mangel noch größer. »Wenn es etwas zu kaufen gibt, dann muss man dafür stundenlang anstehen – Marathon-Warteschlangen von fünf, sechs Stunden, die sich über mehrere Straßenzüge erstrecken.«

Die Gemeinde lebte vor der Pandemie hauptsächlich von Spenden aus den USA und Europa. Doch mit Beginn der Corona-Beschränkungen und dem Einbruch des Tourismus ist die Einnahmequelle nahezu versiegt. »Früher haben viele Besucher Medikamente für unsere Gemeinde-Apotheke mitgebracht, die wir dann unter den Juden in Havanna und in den Provinzen verteilt haben. Aber auch der übrigen Bevölkerung haben wir Medikamente geschenkt, die benötigt wurden. Heute ist unsere Apotheke komplett leer.«

Die Führung der Gemeinde unternehme außerordentliche Anstrengungen, um den Gemeindemitgliedern zu helfen, erzählt Babani, vor allem mit Lebensmitteln. Die müssten aber für Devisen gekauft werden. »Ohne die Spenden ist es schwierig, an Devisen zu kommen«, sagt er. Hauptsächlich erreiche sie Hilfe durch das American Jewish Joint Distribution Committee (JDC).

Wegen der Pandemie bleiben Besucher weg, die Spenden mitbringen.

Zu Pessach im vergangenen und auch in diesem Jahr habe man einen Hilfscontainer aus Kanada erhalten, sagt Babani. »Das war eine große Unterstützung für die jüdischen Familien hier.« Er würde sich wünschen, dass auch Israel etwas tue.

INFektionen Im Laufe des vergangenen Jahres haben sich viele aus der Gemeinde mit dem Coronavirus infiziert. »Einige sind schwer erkrankt, aber glücklicherweise hatten wir unter den Gemeindemitgliedern keine Toten zu beklagen«, sagt Babani. Im Vergleich zu vielen anderen Ländern der Region hat Kuba die Pandemie zwar gut unter Kontrolle, aber trotz angelaufener Impfkampagne sind die Infektionszahlen zuletzt dramatisch gestiegen. Sie drohen, das Gesundheitssystem zu überfordern. Das hängt auch mit der Ausbreitung der ansteckenderen Delta-Variante zusammen.

Das habe zur Frustration beigetragen, sagt Babani. »Mittlerweile hat sich zum Glück langsam alles wieder beruhigt. Aber es ist mehr Polizei auf den Straßen. Auf dem Weg zur Synagoge konnte ich mich davon überzeugen.« Die Position der Gemeinde sei eine des Friedens. »Und wenn wir sagen, wir predigen Frieden, dann predigen wir ihn für alle Seiten«, sagt Babani. Gewalt führe zu nichts, das habe die Geschichte gezeigt. »Gleichzeitig möchte ich, dass die Menschen gehört werden und ihre berechtigten Forderungen auch ernst genommen werden.«

Einmischung von außen aber lehnt er ab – und meint damit sowohl die USA als auch Russland, wie er betont. »Das ist ein Problem der Kubaner. Hier darf sich keine ausländische Macht einmischen.«

Vielmehr sei die Regierung gefordert. »Wenn sie nicht versteht, was passiert ist, und die unnachgiebige Position beibehält, nicht auf die Beschwerden der Leute eingeht, ihre Grundbedürfnisse zu decken, wird es weitere soziale Ausbrüche geben«, ist sich Babani sicher. »Und beim nächsten Mal wird es größer sein, mit schlimmeren Konsequenzen, denn dann könnte es viele Tote und Verletzte geben.«

Jom Haschoa

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