Russland

Verheißen und vergessen

Wenn es nach den Sowjets gegangen wäre, dann hätte der Name Birobidschan mindestens so bekannt werden sollen wie Jerusalem oder Tel Aviv. 1928 ließ Stalin im fernen Osten Russlands, nahe der Grenze zu China, die städtische Siedlung Birobidschan gründen. Im sibirischen Niemandsland sollte ein autonomes Gebiet für die jüdische Bevölkerung der Sowjetunion entstehen.

Die russisch-amerikanische Journalistin Masha Gessen gräbt sich in Where the Jews Aren’t. The Sad and Absurd Story of Birobidzhan, Russia’s Jewish Autonomous Region durch die unerzählte Geschichte der Juden in Russland und der Sowjetunion des 20. Jahrhunderts. Wie im Brennglas lässt sich in Birobidschan dokumentieren, was die Juden in der Sowjetunion zu durchleben hatten, »von Hoffnung, Not und Schmerz bis zu Angst, Verlust und Leere«, wie Gessen schreibt. Es ist ein Ort, der wie kein anderer die Geschichte der Juden in der Sowjetunion in seiner »konzentrierten tragischen Absurdität« zeigt.

pogrome Gessen porträtiert in ihrem Buch ein Jahrhundert, das mit Pogromen beginnt und mit Emigration endet. Sie schreibt von der Verheißung einer neuen Heimstatt, von stalinistischem Terror bis hin zur Bedeutungslosigkeit Birobidschans: Immer wieder wurden im Fernen Osten Juden angesiedelt, um kurz darauf doch wieder verfolgt oder vergessen zu werden. Heute ist Birobidschan eine 75.000-Einwohner-Stadt mit einer jiddischen Zeitung – die nicht gelesen wird, da die Sprache niemand versteht.

Nüchtern und kritisch erzählt Gessen Russlands jüdische Geschichte im 20. Jahrhundert. Sie kreist um die zwei zentralen jüdischen Vordenker David Bergelson, den »jüdischen Maxim Gorki«, der in seinen sozialistisch-realistischen Werken die Utopie von Birobidschan besang, und Simon Dubnow, den größten Vorkämpfer für soziale und kulturelle Autonomie der Juden in einer multipolaren jüdischen Welt. Deren tragische Lebensenden bilden zugleich die Klammer für die jüdische Tragödie des 20. Jahrhunderts: Dubnow wird 1941 von deutschen Soldaten in Lettland ermordet, Bergelson bei Stalins letzter »Säuberungsaktion« 1952 hingerichtet.

»Wann sollen die Juden gehen, wann sollen sie bleiben? Wann wissen wir, dass wir sicher sind?« Masha Gessen stellt ihr Buch in den Kontext dieser Fragen. Dass heute die Zahl jüdischer Auswanderer wächst, macht diese Fragen auch in Russland wieder aktuell.

utopie Die Geschichte Birobidschans ist nicht nur eine spannende Annäherung an eine sowjetische Utopie, sondern sie hat auch mit der Autorin selbst zu tun: Sie hat Bücher über den russischen Präsidenten Wladimir Putin und die regierungskritische Punkrock-Band »Pussy Riot« geschrieben und lebt heute in New York. Geboren wurde Gessen 1967 in Moskau als Kind einer jüdischen Familie, die 1981 in die USA auswanderte. Jahre später kehrte Gessen als Russlandkorrespondentin nach Moskau zurück. Doch wegen der Repressionen gegen Schwule und Lesben verließ sie Russland 2013 wieder.

Aus der Perspektive dieses doppelten Exils geht dieses Buch mit seinen Fragen weit über den ausgeträumten Traum von Birobidschan hinaus.

Masha Gessen: »Where the Jews Aren’t. The Sad and Absurd Story of Birobidzhan, Russia’s Jewish Autonomous Region«. Schocken, New York 2016, 192 S., 17 $

Berlin

Prozess um Attentat am Holocaust-Mahnmal fortgesetzt

Das überlebende Opfer, der 31-jährige spanische Tourist Iker M., wollte am Mittwoch persönlich vor dem Kammergericht aussagen

 03.12.2025

Sydney

Jüdische Organisationen prangern »Geißel« Antisemitismus an

Im Fokus steht dieses Mal Australien. Es ist Gastgeber einer Konferenz der internationalen jüdischen Initiative »J7«. Sie stellt Zahlen zu Judenhass auf dem Kontinent vor - und spricht von historischen Höchstständen

von Leticia Witte  02.12.2025

New York

Das sind die Rabbiner in Mamdanis Team

Im Gegensatz zu seinem Vorgänger hat Mamdani keinen Ortodoxen in seine Übergangsausschüsse berufen – eine Lücke, die bereits im Wahlkampf sichtbar wurde

 02.12.2025

Dänemark

Männer sollen 760.000 Euro für die Hamas gesammelt haben

Am Dienstagmorgen nahm die Polizei einen 28-Jährigen fest. Sein mutmaßlicher Komplize sitzt bereits in U-Haft

 02.12.2025

Italien

Francesca Albanese und ihre »Mahnung« an die Presse

In Turin wurden die Redaktionsräume von »La Stampa« von Demonstranten verwüstet. Die Reaktion der UN-Sonderbeauftragten für die Palästinensergebiete verstörte viele

von Michael Thaidigsmann  02.12.2025

Jüdisches Leben im Libanon

Noch immer hat Beirut eine Synagoge, aber die Gläubigen nehmen ab

Einst war Libanon ihr Zufluchtsort, dann kam der Bürgerkrieg, und viele gingen. Doch nach wie vor gehören Juden zu den 18 anerkannten Religionsgruppen im Libanon - auch wenn nur noch wenige im Land leben

von Andrea Krogmann  02.12.2025

Bereit fürs ICZ-Präsidium: Noëmi van Gelder, Arthur Braunschweig und Edi Rosenstein (v.l.n.r.)

Interview

»Meinungsvielfalt gilt es auszuhalten« 

Am 8. Dezember wählt die Gemeindeversammlung der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich ein neues Präsidium. Ein Gespräch mit den Kandidaten über Herausforderungen an die Gemeinde, Grabenkämpfe und Visionen

von Nicole Dreyfus  01.12.2025

Italien

Der Anti-Banksy

AleXsandro Palombo unterstützt mit seiner Kunst Israel, anstatt es zu verdammen

von Federica Matteoni  01.12.2025

Haifa

Nach abgesagter Auktion: Holocaust-Zeugnisse jetzt in Israel

Die geplante Versteigerung von Holocaust-Zeugnissen in Deutschland hatte für große Empörung gesorgt. Nun wurden viele der Objekte nach Israel gebracht und sollen dort in einem Museum gezeigt werden

von Sara Lemel  01.12.2025