Ukraine

Vergesst uns nicht!

Während russischer Angriffe: ukrainische Soldaten in einem Industriegebiet der Stadt Sjewjerodonezk (20. Juni) Foto: REUTERS

Vier Monate nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs ist die Ukraine so weit von einem Frieden entfernt wie im Februar. Im öffentlichen Interesse des Westens rückt das Thema jedoch langsam in den Hintergrund, und andere Probleme treten allmählich in den Vordergrund. Es sieht so aus, als würde sich die Welt an die Tatsache gewöhnen, dass in Europa ein Krieg stattfindet.

Für die Ukraine ist es wichtig, dass die emotionale Anteilnahme der internatio­nalen Gemeinschaft beständig ist. Die ukrainische Gesellschaft zahlt für jeden Kriegstag einen hohen Preis. Mein Facebook-Account ist voll mit Todesanzeigen. In der Nähe von Izyum, Sjewjerodonezk und Cherson kommen jeden Tag junge Menschen um, die das Land verteidigen. Russische Granaten und Raketen schlagen weiterhin jeden Tag nicht nur an der Front ein, sondern auch in anderen Teilen des Landes.

ESKALATION Natürlich braucht die Ukraine zuallererst Waffen und Munition. Es ist höchste Zeit, Befürchtungen beiseite zu legen, dass aktivere und erfolgreichere Aktionen der ukrainischen Streitkräfte den Kreml irgendwie zur Eskalation »provozieren« würden. Wir haben es doch längst mit einer Eskalation zu tun!

Es geht aber nicht nur um Deutschland – es ist nur das auffälligste und offensichtlichste Beispiel. Auch Israels Widerstand gegen die Lieferung von militärtechnischer Hilfe an die Ukraine aus Drittländern ruft Verwirrung hervor und ist weder rational noch ethisch zu erklären. Der Grund dafür kann offenbar nur darin liegen, dass die Aufmerksamkeit für den Krieg allmählich schwindet, was dazu führt, dass die Bevölkerung in mehreren Ländern den Druck auf die Regierungen in dieser Angelegenheit verringern.

Doch es ist äußerst wichtig, das Thema Krieg weiterhin mit Nachdruck auf die Informationsagenda zu setzen. Die Situation in der Ukraine nimmt trotz der Regierungskrise in Israel und anderer wichtiger aktueller Ereignisse weiterhin einen zentralen Platz für die jüdische Welt ein. Der Krieg in der Ukraine hat eine deutlich jüdische Komponente; und Juden auf der ganzen Welt empfinden Mitgefühl für die Menschen in der Ukraine.

GLOBAL FORUM Dies zeigte vergangene Woche auch das Global Forum des American Jewish Committee (AJC). Als eine der angesehensten (und wahrscheinlich politisch einflussreichsten) jüdischen Organisationen in den Vereinigten Staaten hält das AJC alljährlich eine Veranstaltung ab, die führende jüdische Repräsentanten aus aller Welt zusammenbringt. Die Tagesordnung wird von den dringendsten Anliegen der jüdischen Diaspora bestimmt. Oft ist dies wie im vergangenen Jahr das Anwachsen des Antisemitismus oder die Notwendigkeit, Israel zu unterstützen.

In diesem Jahr stand der Ukraine-Krieg ganz oben auf der Agenda. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wandte sich in einem Aufruf an die Teilnehmer des Forums. Er kombinierte die jüdische und universelle Sichtweise, um den Krieg zu beschreiben. Selenskyj sagte: »Ich bitte Sie, Ihre Bemühungen zu verdoppeln, um den russischen Hass zu stoppen. Hass auf die Menschheit. Ja, es ist Hass, der die treibende Kraft dieses andauernden russischen Krieges gegen die Ukraine und gegen die Freiheit in Europa und in der Welt ist. Hass auf Ukrainer – auf die Kultur der Ukrainer, die Geschichte der Ukraine und darauf, dass die Ukraine trotz aller Schrecken der Vergangenheit ein freundliches und offenes Land für verschiedene Kulturen geblieben ist.«

Russische Raketen hätten Babyn Jar in Kiew getroffen: »Russische Artillerie hat die Menora in Drobytsky Jar in der Nähe von Charkiw beschädigt. Und offen antisemitische Äußerungen des russischen Außenministers haben einen weltweiten Skandal ausgelöst. Ist das nicht genug?« Wolodymyr Selenskyj forderte die Mitglieder des American Jewish Committee auf, bei der Verschärfung der Sanktionen gegen die Russische Föderation und bei der Lieferung von Offensivwaffen zu helfen.

CHURCHILL Als Selenskyj seinen Aufruf beendet hatte, rief AJC-Geschäftsführer David Harris den Teilnehmern des Forums ein Ereignis in Erinnerung, das 80 Jahre zurückliegt: »Stellen Sie sich einen Moment lang Winston Churchill vor, der sich in den 40er-Jahren die Zeit nimmt, einen Film für das American Jewish Committee Global Forum aufzunehmen. Das ist die Bedeutung, die er (Selenskyj) uns, Ihnen und dieser Organisation beimisst. Wir werden es nicht wagen, ihn im Stich zu lassen.«

Der Krieg in der Ukraine hat eine deutlich jüdische Komponente.

Im Rahmen des Global Forums ehrte der AJC die jüdische Studierendenorganisation Hillel in der ukrainischen Stadt Charkiw mit dem Sharon Greene Award for Campus Advocacy. Das Hillel-Büro befand sich in einem Gebäude, das durch russischen Beschuss zerstört wurde. Ein Hillel-Aktivist aus Charkiw kam als Armeefreiwilliger ums Leben.

»Wir sollten uns alle von den Hillel-Leuten in der Ukraine inspirieren lassen, die während des Krieges weiterhin jüdische Studenten unterstützen«, sagte Harris. Zusätzlich zu dem Preis hat das American Jewish Committee beträchtliche Mittel für einen Sonderfonds gesammelt, der mehreren ukrainischen Hillel-Ortsgruppen helfen soll, ihre Aktivitäten fortzusetzen.

evakuierung Auch jüdische Einzelpersonen unterstützen die Ukraine. So wurde vergangene Woche bekannt, dass der Gründer von WhatsApp, Jan Boris Koum, der 1976 in Kiew geboren wurde und seit 30 Jahren in den USA lebt, in den vergangenen Monaten mehr als zehn Millionen Dollar gespendet hat, um ukrainischen Flüchtlingen in Europa sowie der Evakuierung in der Ukraine zu helfen.

Leider kann Wohltätigkeit Panzer und Raketen nicht aufhalten. Die ukrainische Gesellschaft zahlt einen hohen Preis für jeden Tag, den sich die Militärhilfe hinauszögert. Die westliche Gesellschaft und ihre Politiker, die morgens aufstehen und abends ins Bett gehen, sollten sich bewusst sein, dass nicht alle in Europa diesen Tag überlebt haben.

Der Autor ist Historiker und Journalist in Kiew. Er dokumentiert die aktuellen Kriegsverbrechen in der Ukraine.

Jom Haschoa

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