Bolivien

Überleben bei Indianern

Am 19. April 1939 stellte das Innenministerium des Andenstaates Bolivien dem jüdischen Flüchtling Heinz Bieber und seiner Frau Anni Sara aus der heute in Polen liegenden Hafenstadt Zoppot ein Einreisevisum aus. Nach 30 Tagen hätte es seine Gültigkeit verloren. Die Biebers schafften es, eine der wenigen Schiffspassagen zu bekommen und innerhalb des vorgeschriebenen Zeitraums einzureisen. Später wurden das Paar und seine Kinder bolivianische Staatsbürger.

emigranten Fast sechs Jahrzehnte später begab sich der Sohn des Ehepaares Bieber, León Enrique, nach seinem Studium der Politikwissenschaften und seiner Promotion an der Freien Universität Berlin auf die Spuren der jüdischen Emigranten in Bolivien, zu denen seine Eltern gehörten. Das Ergebnis überraschte selbst ihn. »Bolivien ist das Land«, schreibt der heute 69-Jährige, »das im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Staaten in relativen Zahlen die meisten Juden, die damals aus Europa flüchten mussten, aufgenommen hat.«

Die Zahlen, die der Politikwissenschaftler nach jahrelangen Archivarbeiten zusammengetragen hat, sind beeindruckend: Innerhalb von nur drei Jahren schafften es zwischen 7000 und 8000 jüdische Migranten, ein Einreisevisum für das kleine Land mit seinen damals rund 2,7 Millionen, mehrheitlich indigenen, Einwohnern zu bekommen. Und die bolivianischen Konsulatsbeamten und Diplomaten drückten mehr als beide Augen zu – und hielten durchaus auch die Hand auf –, wenn es galt, den Ausweis für die Einreise in das Land freizustempeln. Für die Einwanderer war es kompliziert, weil alle über Drittstaaten wie Chile oder Peru einreisen mussten, da Bolivien über keinen Zugang zum Meer verfügt.

Wirtschaft Warum wollte Bolivien Einwanderer, zumal jüdische, ansiedeln? Schließlich gab es keine Lobby dafür, die jüdische Gemeinschaft zählte kaum 200 Personen. Die Frage ist einfach zu beantworten. Das Land war wirtschaftlich am Boden. In den Jahren 1932 bis 1935 hatte es den sogenannten Chacokrieg gegen Paraguay geführt. Dabei ging es um Bodenschätze in der Grenzregion. Mit der Ansiedlung von hoch qualifizierten und zum Teil auch vermögenden Einwanderern erhofften sich bolivianische Politiker, die Wirtschaft anzukurbeln.

Der Staat habe zwar über keine Ressourcen verfügt, um die jüdischen Einwanderer finanziell zu unterstützen, »dennoch expandierte seine Wirtschaft gerade in der Folgezeit, was entscheidend zur Integration eines Teils der Neubürger beitrug«, urteilt Bieber. Die Selbsthilfe funktionierte also.

Die »Kameraden des Unglücks«, wie ein Einwanderer die Flüchtlinge nannte, richteten sich im »Hotel Bolivia« ein. Sie versuchten, den Lebensunterhalt für sich und ihre Familien als Handwerker, Gewerbetreibende und Landwirte zu bestreiten. Mit finanzieller Unterstützung des jüdischen »Zinnbarons« Mauricio Hochschild und des Agro Joint wurde ein Hilfsverein gegründet, der Kredite zur Verfügung stellte, bei Firmengründungen half und Arbeitsstellen vermittelte.

Die 1939 gegründete »Gesellschaft für den Schutz der israelitischen Einwanderer« (SOPRO) kümmerte sich um das wirtschaftliche, soziale und religiöse Wohlergehen. Sogar bei der Gründung einer sehr schnell gescheiterten landwirtschaftlichen Kooperative in den Anden half die SOPRO.

interviews Dass León E. Bieber so detailliert über die jüdischen Einwanderer berichten kann, verdankt er einem unbekannten Archivar der jüdischen Gemeinde von Cochabama, wo er in der Dachkammer einer Synagoge die kompletten Unterlagen der SOPRO fand. Diese halfen ihm, mit seinem Tonbandmaterial von mehr als 110 Interviews und den Einreisedokumenten und Zeitungsausschnitten aus dem bolivianischen Staatsarchiv die Geschichte der jüdischen Einwanderung zu rekonstruieren.

Während manche osteuropäische, Jiddisch sprechende Juden aus den galizischen Schtetln als Hausierer in Indio-Gemeinden auftauchten und die Dialekte der Ureinwohner bald besser beherrschten als die Landessprache Spanisch, versuchten die deutschsprachigen Juden, sich im städtischen Ambiente zu etablieren. Doch nur den wenigsten gelang dies.

Nach dem Krieg, in den 50er-Jahren, stieg die Zahl der Einwanderer zwar noch einmal, doch wer konnte, wanderte weiter und versuchte, sein Glück woanders zu finden, vor allem in den USA. »Bolivien«, so urteilt Bieber, »blieb den Einwanderern fremd.«

Heinz Bieber dagegen wurde heimisch. 1982 brachte der jüdische Auswanderer, der sich inzwischen Enrique nannte, an einem nach ihm benannten Sportzentrum eine Erinnerungstafel an: »Danke, Bolivien. Herrliches Land, weil es mich vor den Nazimördern gerettet hat.«

León E. Bieber: »Jüdisches Leben in Bolivien. Die Einwanderungswelle 1938–1940«. Metropol, Berlin 2012, 304 S., 24 €

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