Russland

Tod eines Dissidenten

Der Moskauer Poet Lew Rubinstein erlag nach einem Verkehrsunfall seinen Verletzungen. Ein Nachruf

von Polina Kantor  18.01.2024 07:17 Uhr

Ein Wortkünstler des Moskauer Konzeptualismus: Lew Rubinstein ist am 14. Januar in einem Moskauer Krankenhaus gestorben. Foto: imago/ITAR-TASS

Der Moskauer Poet Lew Rubinstein erlag nach einem Verkehrsunfall seinen Verletzungen. Ein Nachruf

von Polina Kantor  18.01.2024 07:17 Uhr

An dieser Stelle sollte Lew Rubinstein eigentlich in einem Porträt selbst zu Wort kommen. So war es mit ihm, dem Dichter und Essayisten, persönlich verabredet. Worte und Sprache, mit dem Stift zu Papier gebracht oder gesprochen, waren sein Ein und Alles. Sie waren die Quintessenz seiner Existenz. Der überaus agile und weltoffene 76 Jahre alte Moskauer Sprachkünstler hätte zweifellos weitaus mehr zu sagen gehabt, als in einem einzigen Text Platz gefunden hätte. Doch das Gespräch kam nicht mehr zustande.

Aufgeschoben bedeutete in diesem Fall entgegen des gängigen und vermutlich gut gemeinten Sprichworts aufgehoben. Am 8. Januar, dem letzten Tag der russischen Neujahrsfeiertage, überquerte Rubinstein unweit seiner Wohnung einen Zebrastreifen, als sich ein Auto näherte, nicht abbremste und seinen Körper beim Zusammenstoß durch die Luft schleuderte. Das Moskauer Verkehrsdepartement veröffentlichte – mit welcher Intention auch immer – eine Videoaufnahme vom Unfallgeschehen. Unzählige Knochenbrüche und ein schweres Schädeltrauma durch den Aufprall waren die Folge. Am vergangenen Sonntag, dem 14. Januar, erlag der über viele Jahrzehnte aktive Literat in einer Unfallklinik seinen schweren Verletzungen.

Ein Freidenker, der mit Konformismus nie etwas anfangen konnte

Lew Semjonowitsch Rubinstein wäre am 19. Februar 77 Jahre alt geworden. Er lässt Frau und Tochter zurück, aber auch eine ihm stark zugeneigte, zahlenmäßig nicht unerhebliche Anhängerschaft. Als entschiedener Kriegsgegner, der aus seiner Haltung kein Hehl machte, verschaffte er sich Respekt bei kritisch gesinnten Menschen. Genau diese Eigenschaft traf im Lager der Befürworter des Krieges gegen die Ukraine auf Feindseligkeit. Rubinstein begriff sich jedoch keineswegs als Oppositioneller. Für derartige politische Positionierungen hatte er wenig übrig. Wesentlich besser charakterisiert ihn die Bezeichnung Freidenker, einer, der mit Konformismus nie etwas anfangen konnte und schon gar nicht wollte.

Zur Welt kam der zukünftige Dichter im Moskau der Nachkriegszeit, auf dem Arbat, wo sich einst das bekannteste Geburtshaus der Stadt befand. Das Gebäude ist nach wie vor intakt, wird jedoch anderweitig genutzt. Seine jüdischen Eltern, Elena und Semjon Rubinstein, hingen den Idealen der Oktoberrevolution an. Selbst stammten sie aus ärmlichen Verhältnissen und glaubten aufrichtig an die vermeintlichen Wahrheiten des Sowjetkommunismus – ein Umstand, mit dem Lew schon in seiner Jugendzeit fremdelte und der in ihm zunehmend inneren Widerstand hervorrief. Seine Großmutter mütterlicherseits, mit der die Familie in einer Wohnung zusammenlebte, hielt konsequent alle jüdischen Feiertage ein, befolgte die Grundsätze der Kaschrut und beendete den Tag in der Regel mit einem Gebet.

»Wir waren eingestellt, für immer in diesem Dreck zu leben. Aber es kam ganz anders.«

Lew Rubinstein

Dann war da noch der neun Jahre ältere Bruder, der den sogenannten »Stiljagi« nacheiferte, der ersten Jugendsubkultur in der Nachkriegssowjetunion, die sich durch ihren an amerikanische Vorbilder angelehnten Kleidungsstil von der Menge abhoben und gängige sowjetische Moralvorstellungen infrage stellten. Auf den jungen Lew wirkte der Bruder als prägendes Vorbild, er selbst hingegen gehörte schon aus Altersgründen bereits der Hippie-Generation an. Das blieb nicht der einzige Unterschied zwischen den beiden.

Die Eltern hätten ihren Zweitgeborenen gern ebenfalls als ausgebildeten Ingenieur gesehen, doch Lew entschied sich gegen deren ausdrücklichen Wunsch für ein Studium an der Philologischen Fakultät der Pädagogischen Universität. Dabei zielte er weder auf eine wissenschaftliche Karriere ab noch verfolgte er die Absicht, später als Lehrkraft zu arbeiten. Vielmehr zog ihn das Universum der Hauptstadt-Bibliotheken an, denn sie dienten in der frühen Breschnew-Epoche nonkonformistischen Freidenkern wie Rubinstein als Treffpunkt.

Damals schien ihm die Sowjetunion so unveränderlich, als sei sie in Stein gemeißelt: »Ich und meine engsten Freunde waren davon überzeugt, dass uns dieser eintönige sowjetische Auswurf unser ganzes Leben lang begleiten wird. Wir waren darauf eingestellt, für immer in diesem Dreck zu leben. Aber es kam ganz anders. Wie in der Rechtsprechung gibt es Präzedenzfälle auch in Bezug auf die Geschichte. Was einmal vorkam, kann wieder passieren.« Aus seiner Lebenserfahrung als Nonkonformist in der Sowjet­union – damals mit Hippie-Frisur, später mit Kurzhaarschnitt und obligatorischem Dreitagebart – schöpfte Lew Rubinstein über all die vielen Jahre bis zum Tag seines Unfalls.

»Kartotschki«, Gedanken in absoluter Kürze

Der ihm eigene historische, oft mit einem schelmischen Lächeln vorgebrachte Optimismus basierte wohl nicht zuletzt auf der Tatsache, dass er nach Stalins Tod in der Tauwetter-Periode aufgewachsen war, als sich die Grenzen des Möglichen zusehends erweiterten, auch wenn sich die Verhältnisse später wieder ins Gegenteil verkehren sollten. Jedenfalls hob er diesen Umstand bei einem seiner letzten Auftritte beim ehemaligen Radiosender »Echo Moskwy«, oder was davon nach dessen Auflösung noch übrig geblieben ist, gesondert hervor.

Schließlich verlegte Rubinstein seinen Lebensmittelpunkt ganz an den Ort, der schriftlich festgehaltenes Wissen bewahrt und gleichzeitig für lebendigen Disput unter Gleichgesinnten stand. Noch vor seinem Studienabschluss nahm er eine Lohntätigkeit in einer Bib­liothek auf, was letztlich den Grundstein für seinen Werdegang als Denker und Schreiber gelegt hatte. Anders ausgedrückt: Erst die Bibliothek hat seinem Schaffen eine klare Form verliehen. Die Welt der Karteikästen im vordigitalen Zeitalter mit ihren kleinformatigen Kärtchen umgab ihn nicht nur physisch, er kreierte daraus sein Markenzeichen. Jene »kartotschki« animierten ihn dazu, Gedanken in absoluter Kürze zu Papier zu bringen. Seine Poesie überwand dabei die Schwerkraft konventioneller Regelwerke. Im Übrigen bewahrt das Archiv des Moskauer »Garage Museum of Contemporary Art« seine noch vor den berühmten kartotschki verfassten Gedichte auf, doch liegen sie dort unter Verschluss. Rubinstein hat sich zu Lebzeiten dagegen gewehrt, sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Nicht nur die kleinen kartotschki, auch der sowjetische Alltag prägten seine Poesie und das Schaffen der ganzen Gruppe von Schriftstellern und Künstlern, denen sich Rubinstein verbunden fühlte.

Die Überwindung hierarchischer Modelle

Gemeint ist das Phänomen des Moskauer Konzeptualismus, dem Dmitri Prigow, Wsewolod Nekrassow oder auch der im Westen weitaus bekanntere Wladimir Sorokin zuzurechnen ist. Sorokin hatte sich vor Jahren wenig schmeichelhaft über den kulturhistorischen Umgang damit geäußert. Allein die freie Luft zum Atmen, die in den 70er- und 80er-Jahren Menschen dem Kreis der Moskauer Konzeptualisten mit ihren endlosen Gesprächen, Plaudereien und dem Austesten von Grenzen zugeführt hatte, sei von Wert gewesen. Den Konzeptualismus im Museum auszustellen, dies sei hingegen lächerlich.

Vermarkten ließ sich jenes schwer fassbare Kunstkonzept tatsächlich auch nach dem Ende des sozialistischen Experiments nicht. Aber dafür war es ohnehin nicht gedacht, Publikationen oder publikumswirksame Ausstellungen in der Sowjetunion ohnehin unmöglich. Während auf Parteilinie liegende Schriftsteller und Künstler hofiert wurden, erschufen Rubinstein und sein Umfeld in Moskauer Ateliers oder Wohnküchen eine kaum einsehbare, aber inspirierende Parallelwelt. Völlig uneitel legte er später bei seinen vielen öffentlichen Auftritten dar, dass im Zentrum das Gespräch und das Bestreben stünden, künstlerische Grenzen zwischen verschiedenen Genres und Formen aufzubrechen. Wichtig war ihm dabei auch die Überwindung hierarchischer Modelle. Dem Leser, so Rubinstein, komme grundsätzlich die Rolle eines gleichberechtigten Gesprächspartners zu.

Rubinstein und sein Umfeld erschufen eine inspirierende Parallelwelt.

Manche seiner Zeitgenossen erlebten den Zusammenbruch der Sowjetunion nicht mehr, andere gingen ins Ausland, unzählige nach dem 24. Februar 2022, als russische Truppen in der Ukraine einmarschiert waren. Für ihn selbst stand das Thema der Ausreise hingegen niemals auf der Tagesordnung. Nur allzu gut erinnerte er sich daran, wie sehr Diskussionen über die Emigrationsfrage in den 70er-Jahren ihn immer begleitet hatten. Damals existierte nur die Option einer Ausreise »für immer«. Ständige Verabschiedungen kamen einer Trauerfeier für Verstorbene gleich, erzählte er bei einem seiner Interviews. Ihn hatte die russische Sprache zurückgehalten – damals wie heute.

Für jemanden wie Lew Rubinstein, der professionell mit Sprache arbeitete und damit auch seine Weltanschauung publik machte, war der Verbleib in Russland durchaus mit einem gewissen persönlichen Risiko verbunden. Mit dem KGB kam er selbst nie in Berührung – vielleicht, weil er kein politischer Dissident, sondern nur ein literarischer war. Vielleicht aber auch einfach nur deshalb, weil die Sowjetunion plötzlich aufgehört hatte, als Staat zu existieren.

Repressive Kontrollmethoden im heutigen Russland

Aber auch die Nachfolgeinstanzen zur Ausübung repressiver Kontrollmethoden im heutigen Russland ließen ihn gewähren. Rubinstein wurde weder als sogenannter ausländischer Agent diffamiert, noch strafrechtlich belangt. Dabei fänden sich viele Aussagen wie die folgende: »Jeder Krieg ist nicht allein deshalb verheerend, weil es leicht ist, ihn anzufangen, und schwer, ihn zu beenden. Er ist nicht nur deshalb verheerend, weil Menschen ums Leben kommen und Städte zerstört werden. Der Krieg zerstört und verstümmelt die Seelen der Menschen.«

Als Publizist und Essayist blieb Rubinstein bis zu seinem Tod extrem produktiv. Allein im Kulturteil des russischen Onlinemediums »Republic« erschienen seit Mai 2022 fast 120 von ihm verfasste Texte und Artikel.

In seinem Videonachruf brüstete sich der Journalist, Radiomacher und Herausgeber Sergej Parchomenko damit, mit Rubinstein in den 90er-Jahren erstmals einen Dichter in eine Zeitschriftenredaktion berufen zu haben. Nach der Schließung des Magazins »Itogi« taten es ihm andere Redaktionen nach. Rubinstein sei ein »Genius loci« gewesen, also ein »Geist des Ortes«. Mit seinem Ableben, so liest es sich aus unzähligen Kommentaren seines riesigen Bekanntenkreises, bricht emotional betrachtet ein weiteres Stück Verbundenheit mit Moskau als Stadt weg, in der immer noch Menschen leben, die sich dem alltäglichen Kriegswahnsinn nicht beugen wollen.

Lew Rubinstein hätte dazu sicherlich auch an dieser Stelle viel zu sagen gehabt.

Jom Haschoa

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